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470 Psychische Studien. XVI. Jahrg. 10. Heft. (October 1889.)
aus Prinzip jedes philosophische Lehrsystem abzuweisen
, welches nicht gerade das unsere ist. Keines derselben
hat weder das Monopol absoluter Wahrheit, noch den Erbschaden
absoluten Irrthums. In allen, also auch im
pantheistischen und im materialistischen, finden sich Wahrheiten
zwischen Irrthümern, und ein gewisser Eklekticismus,
welcher Nichts a priori verdammt, sondern, wie schon das
Sprüchwort anrath, alles prüft und das Beste behält, ist
das erste Bedingniss jeder ernsten Forschung. Man kann
der übersinnlichen Weltanschauung huldigen, ohne gezwungen
zu sein, die unläugbaren Verdienste des Positivismus um
die exakte Wissenschaft in Abrede zu stellen.
Wenn es sich nun um die Erklärung ungewöhnlicher
Thatsachen handelt, so scheint mir dasjenige Verfahren den
Vorzug zu verdienen, welches am wenigsten weit ausholt,
d. h. welches sich, so sehr dies nur immer möglich ist, an
die uns gegebenen Verhältnisse anlehnt, der experimentalen
Controle also das weiteste Feld öffnet und auf diese Weise
dem Fortschritt des Wissens eine systematische Entwickelung
ermöglicht. Die anatomische Physiologie, welche
sich ausschliesslich mit der Struktur und den biologischen
Funktionen des Organismus befasst, ohne sich im geringsten
um die Wechselbeziehungen zwischen dem Bewussten und
dem Unbewussten zu bekümmern, kann das gestellte
Problem nicht lösen; sie reicht dazu nicht aus, weil sie sich
stets an das unauflösliche Räthsel stossen wird, wie der
Eindruck zum Bewusstsein gelangt, wie sich mechanische,
sensorielle Funktionen im einheitlichen Ich verschmelzen,
wie sich chemische Prozesse in Denkvermögen umsetzen. Die
offiziellen Vertreter der Wissenschaft wollen dies zwar nicht
eingestehen und sind auch nie in Verlegenheit, wenn es sich
um Erklärung rein psychischer Vorgänge handelt. Auf
Alles haben sie eine Antwort, oder doch zum mindesten ein
— Wort, womit sie den Gegenstand zu erledigen meinen.
So ist nach Alfred Maury hinter den merkwürdigsten Vorgängen
des Somnambulismus weiter nichts als eine momentane
„Hyperästhesie" der Sinne zu suchen (während doch that-
sächlich die leiblichen Sinneswerkzeuge des Somnambulen
sich in anästhetischera Zustande befinden); die unbewussten
Funktionen des Organismus werden „Reflexwirkungen" der
sensoriellen Nervencentren zugeschrieben; andere Gelehrte
erfanden express die „unbewussten Muskelbewegungen", um
die Tischphänomene zu erklären; wo die transcendentale
Psychologie Integritätsgefühle sieht, da sehen solche Gelehrte
weiter nichts als unbewusste Erinnerungen; jene thatsächlichen
unbewussten Thätigkeiten unserer metaphysischen Unterlage,
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