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du Prel: Die Mystik im Irrsinn. 557
Vernunft sogar als Bedingung der Inspiriation
hinstellt: — „Nicht als Verständiger wird der Mensch der
gottbegeisterten und wahrhaften Weissagung theilhaftig,
sondern wenn er entweder im Schlafe des Gebrauches der
Vernunft beraubt, oder durch Krankheit oder irgend eine
Begeisterung seiner nicht mächtig ist."1) — Und das ist ja
im Allgemeinen richtig, dass die sinnlich bewusste Seele ihre
Selbstständigkeit erst einbüssen muss, wenn die transcenden-
talen Fähigkeiten aus der Latenz treten sollen. Sie tauchen aus
dem Unbewussten auf; aber dieses Unbewusste ist nicht das der
Pantheisten, die die Seele in das Allgemeinleben der Natur
zerflossen sein lassen; sondern der Träger der mystischen
Fähigkeiten ist individuell, und zwar sogar in einem höheren
Grade, als der sinnliche Mensch es ist.
Wenn auffällige Analogien bestehen zwischen dem
Zustand der Somnambulen und dem der Sterbenden
, — was ich in der „Philosophie der Mystik" besprochen
habe, — weil eben der Somnambulismus theiiweise das
transcendentale Subjekt hervorkehrt, das im Tode ganz
frei wird, so sind auch in diesem Punkte die Irrsinnigen
anzureihen. Bei diesen wird sogar das Auftreten transcen-
dentaler Fähigkeiten im Sterben um so leichter geschehen,
als sie dem Somnambulismus ohnehin schon näher stehen
und der herannahende Tod ihn nicht zu erwecken, sondern
nur zu steigern braucht. Der Philosoph Chr. Fr. Krause
sagt, dass Oretins und Wasserköpfige, in Somnambulismus
versetzt, eine ausserordentliche Erinnerungskraft zeigen; dass
ferner Irrsinnige oft wenige Stunden vor dem Tode ein
Gedächtniss von wunderbarer Stärke, Klarheit und Freiheit
erhalten.2) Diese Gedächtniszsteigerung entzieht sich aber um
so mehr der physiologischen Erklärung, verräth sich um so
mehr als ein transcendentales Phänomen, beweist um so
mehr die Beschränkung der Geistesstörung auf das Hirn-
bewusstsein, als mit dem Irrsinn, soweit er frei von Somnambulismus
ist, die Gedächtnissschwäche so regelmässig
verbunden ist, dass Schopenhauer ihn sogar daraus
entstehen lässt.
Da Irrsinnige schon als solche zum Autosomnambulismus
geneigt sind, lo lässt sich vorweg annehmen, dass sie, wenn
zudem noch magnetisirt, in einen höheren Grad von
Somnambulismus gebracht werden können, als Andere.
Diese Annahme bestätigt der Arzt Choron: — Eine seiner
Kranken, ein Fräulein von 30 Jahren, von Jugend auf
l) Piaton: — „Timaeus."
f) Krause: — „Vorlesungen über psychische Anthropologie". 443.
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