http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1889/0567
du Prel: Die Mystik im Irrsinn.
559
Lebensfähigkeit zerstört, dessen Ich decentralisirt und ein
Spielball unheilvoller Einflüsse ist, so dass der geistige Tod
dem leiblichen lange vorhergeht. Indessen bietet der Irrsinn
in seiner Mystik eine sehr tröstliche Seite. Schopenhauer^
Lehre vom Primat des Willens gegenüber der Se-
kundarität des Intellects gilt nämlich ohne alle
Frage vom sinnlichen Intellect, aber eben nur von
diesem. Eine transcendentale Erkenntnissweise
dagegen steht mit dem Willen auf gleicher
Stufe, ist also ebenfalls primär und muss unserem wahren
Wesen zugerechnet werden. Schopenhauer, wenn er nicht
erst in seinen letzten Lebensjahren die Mystik anerkannt
hätte, würde ohne Zweifel diese unvermeidliche Folgerung
selbst gezogen haben, wobei er an Stelle eines unbewussten
Willens das transcendentale Subjekt als metaphysische
Unterlage unserer irdischen Erscheinungsform gefunden hätte.
Diese primäre transcendentale Erkenntnissweise finden wir
nun sogar innerhalb des Irrsinns. Der geistige Tod des
Irrsinnigen zeigt sich also beschränkt auf das sinnliche
Erkenntnissorgan, auf den sekundären Intellect,
auf die irdische Persönlichkeit; gerade diese Störung und
Schmälerung des irdischen Bewusstseins wird aber zur Gelegenheitsursache
für transcendentale Phänomene. Hinter dem
gestörten sinnlichen Bewusstsein taucht unsere eigentliche
Substanz, das transcendentale Subjekt, auf.
Zwar ersetzt dieses nur theilweise die verlorene irdische
Persönlichkeit durch die transcendentale Individualität, und
zeigt sich diese nicht in ihrer Reinheit, sondern getrübt und
vermengt mit den krankhalten Symptomen des Irrsinns; aber
doch verräth sie sich als eine geistige Individualität, die
nicht erreicht wird von geistigen Störungen der irdischen
Person, also auch vom Tode derselben nicht betroffen
werden kann.
Insofern erhalten wir aus dem Studium des Irrsinns
über die Natur unsererSeele sogar mehr Aufschlüsse,
als uns die Psychologie des gesunden und normalen
Menschen liefern kann. Die normale Psychologie iässt uns
immer nur die organisch bedingten Seelenthätigkeiten erkennen
, und die daraus abstrahirte Seelenlehre, die nur den
sekundären Intellect zum Gegenstand hat, wird immer den
materialistischen Zweifeln ausgesetzt bleiben, wenngleich mit
Unrecht, weil die organische Bedingtheit nicht mit organischer
Verursachung verwechselt werden sollte. Die Mystik im
Irrsinn liefert nun immerhin nicht unbeträchtliches Material
zu einer transcendentalen Psychologie, und erst
aus dieser kann eine Seelenlehre abgezogen werden, die
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1889/0567