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Karsse Notizen.
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überhaupt jede Art von künftigen Ereignissen und Zufällen,
vorherzusagen, ferner die Macht, alle auftauchenden Zweifel
und Schwierigkeiten seiner Anhänger zu ergründen und zu
lösen." — „Leidenden und Kranken wird niemals eine
Medizin gegeben, für diese giebt es in ganz Tibet die
folgende unschuldige Universalkur: — dieselben werden
nämlich, nachdem man sie vom Kopf bis Fuss mit einer
dicken Schichte Butter bestrichen, der directen Einwirkung
der Sonnenstrahlen ausgesetzt, worauf sie ihre Gesundheit
wieder erlangen." — Immerhin eine noch bessere Naturheil-
Cur als durch unsere allopathischen medizinischen Gifte.
d) Berlin, ii. Oktober. — Ein Fall von sogenanntem
„moralischem Irrsein" beschäftigte vorgestern die 91. Abtheilung
des Schöffengerichts. Der auf der Anklagebank
befindliche 23jährige Handlungscommis Leopold &. war geständig
, seinen Dienstherren zu drei verschiedenen Malen
Waaren zu erheblichem Betrage gestohlen und den Erlös
in der liederlichsten Weise verbraucht zu haben. Er behauptete
aber, dass er jeden moralischen Halts entbehre und
zwar in so hohem Grade, dass dieser Fehler den Character
einer Geisteskrankheit angenommen habe. Diese Behauptung
wurde von seinem eigenen Vater unterstützt, welcher bat,
seinen Sohn ins Irrenhaus und nicht ins Gefängniss zu
schicken. Die beiden medizinischen Sachverständigen,
Sanitätsrath Dr. Long und Medicinal-Assessor Dr. Quitte!
haben den Angeklagten untersucht. Sie sind übereinstimmend
zu der Ansicht gelangt, dass das Gehirn des Angeklagten
allerdings nicht Vollständig normal sei, aber sein Geisteszustand
sei keineswegs derartig, dass seine freie Willensbestimmung
dadurch ausgeschlossen wurde. Er habe eine
allzu nachsichtige Erziehung genossen, während ein kräftiges
Einschreiten gegen ihn am Platze gewesen wäre. Der Begriff
des Unterschiedes zwischen Mein und Dein sei auch dem
Angeklagten klar, wenn derselbe auch bisweilen an Wahnvorstellungen
leide und Handlungen begehe, die ein normal
veranlagter Mensch nicht thue. Der Staatsanwalt beantragte
eine Gefängniszstrafe von fünf Monaten. Der Vertheidiger
wies zunächst auf die Verschiedenheit der Strafanträge der
Vertreter der Staatsanwaltschaft hin. Im vorigen Termine,
der kurz vor Schluss der Verhandlung der Vertagung verfiel,
hatte der Staatsanwalt drei Tage Gefängniss beantragt, und
der diesmalige Staatsanwalt beantragte für dasselbe Vergehen
das Fünfzigfache. Im Uebrigen führte er aus, dass
die niedrige moralische Stufe, die der Angeklagte einnehme,
ein krankhafter Zustand sei und das Verfahren gegen ihn
deshalb eingestellt werden müsse. Der Gerichtshof schlo&s
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