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2 Psychische Studien. XVII. Jahrg. 1. Heft (Januar 1890)
haben aber dieses Buch bis jetzt noch zu keinem Referate
von des Verfassers Verlagshandlung erhalten können, was
uns um so mehr verwundert, weil ja gerade die „Psych.
Studien" der geeignete Ort gewesen wären, psychische
Forscher auf die Probleme ihres Lebens besonders aufmerksam
zu machen. Das soll uns jedoch nicht beirren, Herrn Semmig
in dem gerecht zu werden, was ihm mit .Recht gebührt.
Er hat das unbestrittene Verdienst, dunkle oder bisher
verschwiegene Punkte über das vermeintliche Hexen artige
der Jungfrau sowie über ihre übernatürliche Begabung als
Prophetin aufgehellt zu haben. Er sagt: — „Offenbar ist
das Problem (das seelische Räthsel Johannis zu lösen)
äusserst schwierig; liegt doch das ganze Geheimniss unserer
Beziehungen zu einer unsichtbaren Welt darin enthalten!"
— Was will denn der moderne Spiritismus anders, als
dieses Geheimniss zu konstatiren und möglichst in allen
seinen Phasen zu durchleuchten. War doch selbst ein
unfehlbarer Papst, Pius IL9 der bekannte Historiker
Aeneas Sylvins Piccotomini, der bei den Friedensverhandlungen
zu Arras 1435 zugegen war und daselbst mit den Hauptzeugen
der merkwürdigen Geschichte der Jungfrau verkehrte,
nichts anderes zu sagen im Stande als: — „ob es nun ein
göttliches Werk oder eine menschliche Erfindung war, fällt
mir schwer zu behaupten." Hiergegen sagt der jüngste
französische Lebenssehüderer der Jungfrau, S. Luce: —
„Eine fix und fertig von der Politik erfundene Jeanne dfArc
wäre ein noch wundervolleres Wunder, als die von Gott
inspirirte Jungfrau.'1 — Schon Theodor Bouys in Paris hat
1806 versucht, gegenüber den seichten Lösungen des
Rationalismus und den klerikalen Verhimmelungsversuchen
der Jungfrau sich auf die an Somnambulen gemachten
Beobachtungen zu beziehen, während Prof. Hecker in Berlin
in einer Vorlesung über Visionen, die später (18G1) der
Kirchenrath Hase in Jena citirt, dieses mittelalterliche
Naturgeheimniss auf feste Naturgesetze zurückzuführen
trachtet. Aehnlich der Geschichtsschreiber Michelet: —
„Das Leben von oben absorbirte in ihr fortwährend das
andere und unterdrückte die gemeine Entwicklung desselben.
Sie hatte das göttliche Geschenk, an Leib und Seele Kind
zu bleiben. Sie wuchs, ward stark und schön, aber sie
kannte nie die physischen Schwächen des Weibes. Sie
wurden ihr erspart zu Gunsten des Gedankens und der
religiösen Begeisterung. . .. Die gesteigerte und concentrirte
Lebenskraft ward (in ihr) schöpferisch, Ohne ihr Wissen
schuf, so zu sagen, das junge Mädchen und verwirklichte
ihre eigenen Ideen, sie machte Wesen aus ihnen
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