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4 Psychische Studien« XVII. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1890.)
sind sanft und gut. Sie reden französisch und nicht englisch.
Die Engel erschienen mir mit natürlichen Köpfen. Ich habe
sie gesehen und sehe sie mit meinen Augen. Die beiden
Heiligen sind mit Kronen reich verziert. Gott hat ihnen die
Gestalt gegeben, unter welcher sie sich mir zeigen. Sie haben
Haare und Gesichter, und ich habe diese beiden Heiligen
oft wirklich umarmt. — Der heilige Michael ist mir unter
der Gestalt eines wahren und vollkommen edlen Mannes
erschienen. Er versicherte mir, Gott sende mir die beiden
Heiligen," — Nach fünf Jahren, als sie das Vieh hütete,
sagte ihr eine gewisse Stimme: — ,,Gott habe Mitleid mit
dem französischen Volke, und sie müsse gehen, es zu erretten."
— Als sie hierauf weint, befiehlt ihr die Stimme, nach
Vaucouleurs zu gehen, wo sie einen Hauptmann finden werde,
der sie ohne Hinderniss zum Könige führen solle. — „Seit
der Zeit", fährt sie fort, „habe ich nichts gethan als im
Gefolge der erhaltenen Offenbarungen und Erscheinungen,
und selbst während meines ganzen Processes rede ich nur
das, was mir eingegeben ist." (S. Kieser's „Archiv f. d. Thier.
Magnet." 1818 2. Bd. 3. Stück. S. 130 ff-; desgl. 7. Bd. 2. Stück.
S. 11 ff.) — Wir ersehen hieraus, dass ihre grosse Tbat der
Wieder befreiung Frankreichs aus den Händen seiner Feinde
erst nach einer fünfjährigen visionären Schulung zum Entschlüsse
in ihr herangereift ist. —
Herr Semmig fährt nun fort, Sokrates habe ebenfalls
nach Xenophorin Bericht Eingebungen von einem höheren
Wesen zu erhalten erklärt, nach welchen er seinen Schülern
riethe, dies zu thun und jenes zu lassen. Aber diese Stimme
des Sokrates sei etwas unbestimmteres als die Stimmen
Johannens. „Sicherlich sind Montaigne, Boitin, Voltaire und
Cousin im Unrecht, wenn sie das Sokratische Orakel auf eine
Metapher oder mindestens auf eine Allegorie zurückführen.
Ebenso wenig dürfen wir mit Plutarch, Apulejus1 Clemens von
Alexandrien, Origenes, Lactanz und Proklus annehmen,
Sokrates habe das Dasein eines besonderen, seiner Person
beigegebenen Genius behauptet. Weder bei Xenophon noch
bei Plato wird 'das gewisse Dämonische', 'die gewohnte
Stimme', 'der göttliche Wink', als eine bestimmte und
besondere Persönlichkeit, als ein daificov dargestellt. Nach
Alfred Fouillee ('La philosophie de Socrate') fand bei Sokrates
mehr eine psychologische, als eii.e physiologischeHallucination
statt. Sein Glaube an eine ihm von Gott kommende Sendung
treibt ihn, gewisse Anschauungen seiner Vernunft und seines
Herzens zu objektiviren und sie für eine göttliche Stimme
zu halten; aber er strahlt sie, sozusagen, keineswegs in eine
äussere, positive und sichtbare Wirklichkeit aus.
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