http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1890/0013
Wittig: Johanna d'Arc nach Prof. Semiaig und Fabre.
„Bei Jeanne d'Arc ist die Illusion viel tiefer. Sie besteht
nicht bloss in einer Heraufbeschwörung von Worten,
die das Gehör, diesen am allerwenigsten materiellen Sinn,
treffen; sie besteht auch — und das haben Walion u. A.
nicht genügend erkannt — in einer Heraufbesehwörung von
sichtbaren, greifbaren und sogar riechbaren Wirklichkeiten,
Wenn ihre Stimmen zu Johannen sprechen, zeigt sich auf
der Seite, von welcher sie kommen, gemeiniglich eine grosse
Helligkeit (s. das Verhör vom 22. Februar 1431 in Rouen).
Welches Wesen sich ihr offenbart, weiss Johanna daher,
weil es sich mit Namen nennt: — 'Ich bin der heilige
Michael, ich bin die heilige Margarethe'; aber alle haben sie
immer eine 'engelhafte Sprache', und immer ibt es dieselbe
'Oflenbarung von Seiten Gottes*.
„Sehr oft übrigens zeichnet sich das Wesen in den
Augen Johanna?* in deutlichen Formen ab. So antwortete
sie am 27. Februar auf die Frage, ob sie den heiligen Michael
und seine Engel 'leiblich und wirklich' gesehen habe: —
'Ich habe ihn mit meinen leiblichen Augen gesehen, so gut
wie ich Euch sehe.' — Aber welche Formen sieht sie
eigentlich? Sic erklärt, dass sie das Angesicht der Heiligen
erblickt; dass über ihren Haaren eine Krone ist, die das
Haupt umgiebt; dass der heilige Michael 'in der Gestalt
eines wahren Biedermannes' zu ihr komme. Sobald sie
aber bestimmte Einzelnheiten geben soll, drückt sie sich
höchst schwankend aus; sie giebt Antworten, die keine
sind. 'War der heilige Michael nackt V — ,Denkt Ihr, dass
Gott ihn nicht bekleiden könne?' — erwiderte sie. 'Hatte
er Haare?' — ,Warum wären sie ihm abgeschnitten worden?'
— 'Hatten die Heiligen Arme, hatten sie andere Glieder,
wenn sie sich euch zeigten?' — ,Ich weiss nicht; was ich
weiss, ist, dass ihre Sprache schön und gut ist, und dass
ich sie gut verstehe/ — ,Aber wie können sie sprechen,
wenn sie keine Glieder haben?' — ,Ich halte mich
an Gott'.
„Auf die Fragen nach solchen Einzelheiten antwortet
Johanna nicht mit unbedingter Bestimmtheit, oder sie
antwortet zurückhaltend; das beständig Charakteristische
ihrer Offenbarungen ist die Stimme, die ihr ins Ohr
dringt, und eine grosse Helligkeit, die ihre Augen
berührt. Die Formen der Erscheinungen bleiben
unbestimmt, die Hauptsache ist (wie bei Sokrates) die
Stimme; vor ihren Richtern hört sie dieselbe weniger gut
als in ihrem Gefängniss, und noch besser würde sie dieselbe
in einem Walde vernehmen, besonders deutlich aber während
des Glockengeläutes.
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