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252 Psychische Studien. XVII. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1890.)
Augen starrte er die Personen an, welche ihn besuchten;
er Hess sich von Ankommenden, obwohl er ihre Gegenwart
fühlte, in seinem Träumen nicht stören. Sass hie und da
eine fröhliche Gesellschaft an seinem gastlichen Tische, so
blieb er in der allgemeinen Heiterkeit stumm und betrachtete
im Stillen die Gesichter der Tischgenossen, während sich
seine Lippen, wie unwillkürlich, zu einem unvernehmlichen
Lispeln bewegten. — Dieses Verhalten habe ich bei einer
Autosomnambule oft genug Gelegenheit zu bemerken gehabt.
Zu diesem greisen Hellseher führt nun Romana ihren
Geliebten, um ihrer Beider Zukunft von ihm zu erfahren.
Er war ein deutscher Freiwilliger, welcher die letzten
Kämpfe für die Unabhängigkeit der Insel im Jahre 1769
mit durchzufechten half. Die Prophezeihung des Hirten
betrifft daher die künftigen, blutigen Kämpfe, die Katastrophe
in Oletto, dem Wohnort Romana% und der Beiden
Liebesromane, welche durch das Dazwischentreten des von
den Verwandten Romana's erkorenen Bräutigams eine ernste
Störung zu erfahren hatte. Dies zum Verständniss des
Folgenden. Wenn auch die Episode der Befragung des
Sehers durch die beiden Liebenden für diesen besonderen
Fall von Mügge erdichtet worden ist, so können wir ihr
dennoch dieselbe Bedeutung beilegen, welche Ferd. Jüaack
(„Der Zauberspiegel" in „Sphinx" IT, 4. p, 25 ff.) der
„Geschichte von dem jungen König Zain Ahasnam und dem
Könige der Geister" beilegt. Er sagt bei dieser Gelegenheit:
— „An der Hand der im Volksbewusstsein lebenden
Thatsachen, die selber einem Instinkte ihr Dasein verdankten
, vermag der Dichter intuitiv die weitgehendsten
Kombinationen aufzustellen." —
„Kommt", sagt Romana zu ihrem Liebsten, „gehen wir
zu Angelo, er muss uns die 'scapula lesen'. Es ist eine
Kunst, welche unsere Hirten seit uralten Zeiten besitzen,
wie es in den Büchern geschrieben steht. Dem Sampiero,
Corsicas grösstem Helden« wie auch anderen berühmten
Männern wurde durch die 'scapula' ihre Zukunft offenbart."
Sie gehen und finden den Hirten, welcher, in Träumen
versunken, die Harfe spielte.
„Guten Abend, Angelo", sagt das Mädchen, „Du wirst
uns heute wohl nicht mehr erwartet haben?" —
„Ich wusste, das Du kommen würdest."
„Nicht allein; siehe, dieser Herr, den Du schon kennst,
ist mit mir gekommen."
„Ich wusste, dass er sein würde, wo Du bist."
„Ach! Du wusstest es, dann ist Dir auch der Grund
bekannt, warum ich ihn zu Dir geführt?"
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