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418 Psychische Studien. XVII. Jahrg. 9. Heft. (September 1890.)
bei physiologischen Untersuchungen und Betrachtungen eine
grössere Bedeutung zuerkannt werden." —
Und nun behauptet Herr Preyer im Verfolg der
morphologischen, anatomischen und embryologischen wie
späteren Wachsthumsgeschichte der lebenden Wesen, die
er „Phylogenie" (Stammbaumsentwickelung) nennt, dass
die frühere „Lebenskraft" verdrängt werde durch die
eigentliche Lebens- oder Functionenlehre. Es sei eine
weit verbreitete, unrichtige Anschauung, als wenn die
physiologische Function sich überhaupt nicht entwickeln
könne, sondern nur das Substrat, nur der körperliche Träger
derselben. Das Organ entwickele sich, d. h. es durchlaufe
eine Reihe von Formen gesetzmassig, ehe es seine endgültige
Gestalt annehme. Aber nur die Function bestimme in
der Stammesentwickelung diese endgültige Gestalt. „Erst
wenn die Function sich bethätigt, beginnt die Differenzirung
des Substrats der ursprünglichen Wesen. Nicht das Organ
ist es, von dem die Function ihre Entstehung abzuleiten hat,
sondern ursprünglich verhält es sich gerade umgekehrt.
Die Functionen schaffen sich ihre Organe. Oder: das
Bedürfniss bestimmt die organische Form, welche dann
vererbt wird und erst in dem Embryo höherer Thiere, in
der Anlage wenigstens, der Function vorhergeht« — In dem
noch nicht differenzirten, mit allen Theilen gleichmässig
athraenden, assimilirenden, sich bewegenden, in dem
polydynamen Körper der niedersten Wurzelfüsser ist es aber,
wie in dem ähnlich beschaffenen Protoplasma der weissen
Körperchen im Menschenblut, noch nicht durch die
Concurrenz der gleichartigen Individuen zur Ausprägung
eines organbildenden Bedürfnisses, einer Einseitigkeit der
Functionen gekommen, wie bei den höheren Tbieren, wo die
Functionen der Athmung, der Assimilation, der Bewegung,
jede ihre besonderen Organe haben. Wo aber das noch
umbildungsfähige organische Wesen in der allgemeinen
Ooncurrenz um die fundamentalen Bedingungen des Lebens,
Luft, Wasser, Nahrung, Noth leidet, wo die Umgebung
nicht mehr geeignet erscheint, seine bisherige Beschaffenheit
fortdauern zu lassen, da entstehen neue Gebilde, welche
besser zu der neuen Umgebung passen, weil sie den neuen,
durch die Umstände geschaffenen Bedürfnissen dauernd
Genüge thun. — Wenn ich den Embryo des Landsalamanders
, viele Monate vor dem normalen Zeitpunkt
seines Eintritts in die Welt, aus dem Ei nehme, in sauerstoffreichem
Wasser nicht zu warm, nicht zu kalt, nicht zu
hell, nicht zu dunkel halte und mit kleinen lebenden
Wasserthieren reichlich füttere, so zwar, dass ihm das
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