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448 Psychische Studien. XVII. Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1890.)
geschlitzte Kleider wie ein adeliger Dienstmann führe, mit
den Männern tanze, und so zeche und schmause, dass sie
die Grenzen des weiblichen Geschlechtes, welches sie
keineswegs verleugnete, gänzlich überschreite. Und weil
damals, wie leider noch heute, zwei Bewerber den Trierer
Bischofssitz für sich beanspruchten und sich hart bedrängten,
rühmte sie sich, dass sie den Einen derselben inthronisiren
wolle, wie die Jungfrau Johanna, von welcher wir sogleich
sprechen werden, dem König Carl von Frankreich kurz vorher
gethan hatte, indem sie ihn in seiner Herrschaft befestigte;
ja sie betheuerte sogar, dass sie diese von Gott
wieder auferweckte Johanna sei — (imo illa se eandem
Johannam a Deo suscitatam esse affirmabat).
,.Als sie jedoch eines Tages mit dem jungen Grafen
von Virnenburg, welcher sie schützte und begünstigte, nach
Köln kam und hier in Gegenwart Adeliger Wunder der
magischen Kunst that, wurde sie von dem obengenannten
Inquisitor eifrig zur Vornahme einer Untersuchung gesucht
und öffentlich citirt. Sie soll nämlich ein zerrissenes Blatt
Papier vor den Augen der Zuschauer plötzlich wieder ganz
gemacht, ein an die Wand geworfenes und zerbrochenes
Glas in einem Augenblick wieder hergestellt und noch viele
ähnliche eitle Wunder verrichtet haben. Aber die Elende
weigerte sich, den Befehlen der Kirche zu folgen, und hatte
an dem obengenannten Grafen einen Beschützer, so dass
sie nicht verhaftet wurde, sondern heimlich aus Köln
entwich und so der Hand des Inquisitors, nicht aber der
Excommunication entfloh. Dadurch gezwungen, verliess
sie Deutschland und überschritt die französische Grenze,
wo sie einen gewissen Kriegsmann heirathete,
damit sie nicht vom Interdict und dem Schwert der
Gerechtigkeit ereilt werde. Darauf bethörte ein gewisser
Priester, welcher besser ein Hurenwirth zu nennen wäre,
mit Liebesworten diese Hexe, mit welcher er heimlich entfloh
und sich nach Metz begab, wo sie als seine Concubine bei
ihm hauste und öffentlich Allen zeigte, von welchem Geist
sie geführt werde." —
Bedenken wir, dass das Auftreten und die Verheirathung
dieser Pseudo-Johanna in das gleiche Jahr fällt, wie das der
Johanna du Ly$y dass sie wie diese einen französischen Kriegsmann
heirathet und nach Kurzem entflieht, so ist es wohl
keinem Zweifei unterworfen, dass Lesigne, Semmig und der
alte Nider von ein und derselben Persönlichkeit
sprechen, und dass die Nachricht des gleichzeitigen
Dominicaners die genaueste ist. Es ist nur die Frage: —
war $me Fseuäo-Johanna Betrügerin und Taschenspielerin,
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