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du Prel: Das Hellsehen.
457
IL Abtheilung.
Theoretisches und Kritisches.
Das Hellsehen.
Von Dr. Carl da Prel.
L
Das Wort „Hellsehen" soll im Nachfolgenden zur Bezeichnung
jener Fähigkeit gebraucht werden, durch welche
Gegenstände im Gesichtsfelde der Versuchsperson ohne
Vermittelung der Augen — mit grösserer Vorsicht sollte
gesagt werden: ohne den normalen Gebrauch der Augen —
gesehen und bezeichnet werden. Ein Nachtwandler z. B.,
der bei geschlossenen Augen auf Dächern klettert, in
Büchern liest oder schriftliche Arbeiten vollendet, ist hellsehend
. Dieses Hellsehen in räumlicher Nähe ist also zu
unterscheiden vom „räumlichen Fernsehen" auf meilenweite
Entfernung, sowie vom „zeitlichen Fernsehen," d. h. das Hellsehen
beruht auf einem ihm eigenthümlichen Vorgange,
dagegen räumliches und zeitliches Fernsehen gemeinschaftlich
auf einem anderen durchaus verschiedenen Process zu
beruhen scheinen. %
Das Experiment des Hellsehens kann auf zweierlei
Weise vorgenommen werden; man kann entweder dem
Hellsehenden die Augen verbinden, oder aber den zu
sehenden Gegenstand verdecken, z. JB. in eine Schachtel
einschliessen.
Nun erregt aber unter allen Behauptungen der modernen
Mystik keine die Entrüstung der Aufgeklärten so sehr, als
eben das Hellsehen. Sie erscheint ihnen als der reine
Aberwitz. Es wäre auch nicht leicht möglich, sie eines
Besseren zu belehren und zur Anerkennung der Thatsache
zu zwingen, wenn das Hellsehen nur in der erst bezeichneten
Weise, nämlich mit verbundenen Augen, vorgenommen
werden könnte. Dabei bleibt es nämlich dem übelwollenden
Zweifler in alle Ewigkeit unbenommen, die angewendete
Verhüllung der Augen als ungenügend zu bezeichnen. Es
giebt allerdings genug wohlkonstatirte Fälle, in welchen
diese Ausflucht nicht stichhaltig ist; ich erinnere z. B. an
den Fall Pigeaire, über welchen der Vater dieser Somnambulen
, Dr. Piffeaire, und sein College Dr. Frappart ausführlich
Psvchisohe Stadien. Oktober 1890. 30
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