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482 Psychische Studien. XVII. Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1890.)
Malers, des Architekten oder des Kunsttischlers hervor,
zeigen können, oder ist es ein unerklärlicher mystischer
Reiz, der in ihnen liegt und uns gefangen nimmt?" ... „Die
Dinge leben! Ich bin kein Spiritist; ich glaube nicht an
Geister- und sonstigen Spuk, aber ich weiss, was ich von
gewissen Sachen zu halten habe. Wenn ich eine bestimmte
Schublade meines Schreibtisches öffne und ein Buch herausnehme
, in welchem an einer bestimmten Stelle ein blaues
Lesezeichen liegt, das mir ihr theuere Hand gestickt am
letzten Geburtstage, den sie an meiner Seite verlebte, ehe
sie dahin schwand wie eine Wolke im Abendroth, dann
spricht das blaue perlengestickte Band zu mir eine Sprache,
die nur mir verständlich ist; dann tauchen vor meinen Blicken
Bilder auf, so süss, so süss, dass ich es nicht sagen kann,
auch wenn ich wollte. Und wenn ich Abends auf das
Ciavier blicke, das noch dort steht, wo sie zum letzten Mal
ihre schlanken Hände über seine Tasten gleiten Hess, dann
sehe ich ihre hellgekleidete zarte Gestalt auf dem Ciavierschemel
, und sie wendet das Haupt nach mir und lächelt
mir zu mit ihrem bleichen sanften Lächeln, wie es die Engel
haben, ehe sie entschwinden. Und das Instrument beginnt
zu tönen, nur mir vernehmlich, und das Buch mit dem blauen
Zeichen beginnt zu sprechen, und die Lampe, die sie
berührt hat, spricht darein, und die Kaffeemaschine auf dem
Büffet, die seither Niemand mehr benutzte, und es sprechen
die Bilder an der Wand und der verlassene Nähtisch und
die Schutzdecken auf den Fauteuils mit den weissen Blumen,
die sie hineingestickt, und es spricht Alles . . . Alles! —
Ja, die Dinge haben ihr eigenes Leben, und wie die Sage
von einem weisen König erzählt, der die Stimmen des Windes,
der Bäume, der Vögel und aller lebenden und todten
Creaturen verstand, so giebt es heute noch Menschen, —
die Welt nennt sie vielleicht Phantasten und Träumer, —
welche die Sprache der Dinge verstehen und die Geheimnisse,
die sie sich zuraunen. Ist diese Erkenntniss ein Glück
oder ein Unglück? Ich weiss es nicht, aber das weiss ich,
dass sie mir um alles Glück der Welt nicht feil wäre." —
So unser unbekannter, wenn nicht Spiritist, so doch
Spiritualist! Er hätte noch die „Dichter" nennen können,
welche nach Emannel Gäbet s tiefsinnigen Versen zu den
Dolmetschern der Natur gehören: —
„Schweigend spricht's aus der Klippe,
Sprudelt's im Quellengebraus,
Doch mit heiliger Lippe
Deutet die Muse es aus."
Unter ihnen ist es besonders Rückert in seinen „,Toten-
liedern" auf eins seiner ihm früh verstorbenen Kinder, der
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