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518 Psychische Studien. XVII. Jahrg. 11. Heft. (November 1890.)
Das Phänomen des Hellsehens ist also bisher nur sehr
ungenügend erforscht, aber doch lässt sich schon jetzt die
Möglichkeit einer naturwissenschaftlichen Erklärung einsehen.
Der Materialist spricht es mit apodiktischer Gewissheit aus,
dass man ohne Augen nicht sehen kann. Das ist insofern
richtig, als der Sprachgebrauch mit dem Worte „Sehen" die
normale Funktion des Auges bezeichnet. Wenn aber in der
Natur objektive Lichtstrahlen vorhanden sind, die ausserhalb
des siebenfarbigen Spektrums liegen, welche durch die geschlossenen
Augenlieder hindurchdringen, warum sollten wir
das nicht als „Sehen" bezeichnen ? Uebrigens bleibt es uns
ja unbenommen, ein indifferentes Wort zur Bezeichnung des
Vorganges zu wählen und von blosser „Wahrnehmung" zu
reden. Eben weil die Intellektualität der Anschauung sogar
beim normalen Sehen unbestreitbar ist, kann auch eine nicht
normale Wahrnehmung den Effekt des Sehens haben. Wahr*
nehmung und Auge bedingen sich also keineswegs gegenseitig
: im Schlafe sehen wir Traumbilder trotz geschlossener
Augen, und wenn wir mit offenen Augen schlafen, sehen wir
trotzdem die Aussenwelt nicht
Das Hellsehen, soweit wir es bisher betrachtet haben,
beruht also auf dem gleichen Princip, wie das normale
Sehen: auf „Aetherschwingungen". Wir können also die
Thatsache zugeben, ohne zur Annahme einer neuen Naturkraft
genöthigt zu sein, noch zu der eines sechsten Sinnes
auf Seite des Wahrnehmenden, da das „Odlicht" und die
„Verlegung der Empfindungsschwelle des normalen Sinnes"
den Vorgang genügend erklären. Wir bleiben damit innerhalb
der bekannten Naturwissenschaft und haben es nicht nöthig,
mit Perty zu sagen, dass beim Hellsehen die innerste latente
Kraft des Menschen mit der Wesenheit der Dinge, unbehindert
durch die Materie, in Verbindung tritt, wie der
Magnet unter dem Tische die über demselben liegende
Eisenfeile anzieht. Ich leugne aber nicht, dass es Fälle
giebt, wo die bisherige Erklärung nicht mehr ausreicht,
z. B. wenn eine des Lesens unkundige Somnambule den
Inhalt eines verschlossenen Briefes angiebt, — Professor
Gregory führt einen solchen Fall an,1) — wenn sie die Person
des Schreibers beschreibt, von seinen derzeitigen und künftigen
Zuständen Kunde giebt u. s. w. Aber solche Fälle sollten
auch nicht mehr als Hellsehen bezeichnet werden; sie gehören
entweder in das Gebiet der „Psychometrie" oder des
„Fernsehens."
*) Gregory. — „Letters on magnetism."
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