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Müller: Wie ich Spiritualist geworden bin.
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nicht gesprochene, aber fest gedachte. Fräulein Lina H.
entwickelte sich nun zu einer vorzüglichen Psychographin
oder Seelenschreiberin.
Ich begann nun wankend zu werden, nachdem ich eine
oder zwei vollkommen richtige Antworten auf meine Gre-
dankenfragen erhalten hatte, da solches sicher über die
Intelligenz des Mediums hinausging. Ich erhielt später
noch nicht nur mit verschiedenen Namen unterschriebene
Psychographien, sondern auch solche in englischer und
französischer Sprache geschriebene (das Medium kannte nur
ein Paar Worte von ihnen); und Papierstreifen, auf welche
ich verschiedene Namen geschrieben hatte, von denen das
Medium keine Gelegenheit hatte, auch nur einen Blick aufzufangen
, wurden, wemi hinter Fräulein Lina's Rücken gehalten
, von ihr psychographisch wiedergegeben. Sie schrieb
mit ihrer linken Hand ebenso gut wie mit ihrer rechten,
sogar mit ihrer hinter dem Rücken gehaltenen Hand, wenn
sie den Bleistift auch an seinem äussersten Ende hielt.
Seit dieser Zeit ist mir Gelegenheit geboten gewesen,
mit verschiedenen Medien sowohl in London wie in Hamburg
zu experimentiren; ich bin auch gegenwärtig gewesen bei
verschiedenen Seancen, in denen die Materialisations-
Phänomene vorherrschend waren, auch bei Trance-Medien,
und desgleichen bei noch anderen, bei denen die gewöhnlich
als „physikalische" bezeichneten Phänomene stattfanden.
Welches auch immer die Schlüsse gewesen sein mögen, zu
denen ich durch diese verschiedenen Sitzungen gelangte,
ich fand jedenfalls bald heraus, dass die Medien nicht
solche „rarae aves" oder seltene Vögel sind, als sie oft
bezeichnet werden, und dass es eine weit grössere Anzahl
Medien in der Welt giebt, als man zuerst glauben mag;
aber jedenfalls müssen Leute, die sich ein Medium wünschen,
sich des lateinischen Sprichwortes erinnern: „Non volat in
buccas tuas assa eoltimba".*) So z. B. ereignete es sich vor
nicht gar langer Zeit, dass eine junge Dame aus Bengalisch-
Indien, nachdem ich eben erst eine Tisch-Sitzung gebildet
hatte, in einen tiefen Trance fiel und auch sonst Eigenschaften
verrieth, die sie mit der Zeit unzweifelhaft zu
einem Medium erster Klasse entwickelt haben würden; es
war dies die erste spiritualistische Seance, der diese junge
Dame beigewohnt hatte.
Meiner Ansicht nach ist der Mangel an Erfolg gemeiniglich
das Resultat der Art und Weise, auf welche spiritualistische
Oirkel gebildet werden.
*) D. h. „Es fliegt dir keine Taube gebraten i. Maul." «—Der üebers.
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