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214 Psychische Studien. XVIII. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1891.)
IL Abtheilung.
Theoretisches und Kritisches.
Der Nachtwandler.
Von Dr. Carl du Prel.
II.
(Fortsetzung von Seite 1C9.)
Wir überschreiten im Traume häutig äie Grenzen der
Moral, die uns im Wachen durch Anlagen und Grundsätze
gesteckt sind, und auch solche können zu Traumhandlungen
Anlass werden. Von einer solchen erzählt Del Rio: — Ein
Schullehrer Gundisalvus, der in einem Kloster zu schlafen
pflegte, hielt im Schlafe laut Schule und störte dadurch
seinen Zellengenossen, einen Mönch, der ihm drohte, ihn
mit der Ruthe zu wecken. Mitten in der Nacht bemerkte
der Mönch, der glücklicher Weise wach war, im Mondenschein
den Schulmeister, der mit einer grossen Scheere an
sein Bett trat. Der Bedrohte fand eben noch Zeit, sich
hinter sein Bett zu verkriechen: da stiess der Nachtwandler
seine Scheere mit grosser Kraft in das Kopfkissen des
Mönches, worauf er sich wieder niederlegte. Am anderen Morgen
wusste er lange nichts von seinem Angriff, erinnerte sich
aber endlich, geträumt zu haben, dass ihn der Mönch mit
der Ruthe angriff, und dass er sich mit der Scheere ver-
theidigt habe.1) — Ein Seitenstück von merkwürdiger
Aehnlichkeit berichtet aus neuerer Zeit der Irrenarzt
Brierre\ hier war es ein Klosterbruder, der mit einem
Messer vor das Bett des noch am Schreibtisch beschäftigten
Priors trat, das leere Kopfkissen betastete, wohin aber seine
Autosuggestion den Körper des Priors hinversetzte, und
dann heftig zustiess. Er hatte geträumt — und erzählte
es am Morgen —, dass seine Mutter durch den Prior ge-
tödtet worden sei und das Phantom der Verstorbenen ihn
zur Bache aufgefordert habe.2)
Thatsachen dieser Art bringen die Streitfrage zur Entscheidung
, ob suggerirte Verbrechen möglich sind, was die
Schule von Nancy bejaht, die von Paris aber erst jüngst
l\ Del Rio: — „Disquisitiones magicae." I. C. 3.
2) Brierre de Boismont: — „Des hallucinations." 336.
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