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216 Psychische Studien. XVIII. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1891.)
unter dem wiederholten Einfluss des Traumes, dass ihr
Mann die Scheidung beabsichtige.1)
Um auf den Wahrnehmungsmodus der Nachtwandler
zurückzukommen, so haben wir gesehen, dass ihre Orientirung
häufig nicht auf wirklicher Wahrnehmung beruht, sondern
auf Gedächtnissbildern. Damit reichen wir aber nicht
aus. Die Annahme einer wirklichen Wahrnehmung wird
unvermeidlich, sobald wir den Nachtwandler ausserhalb
seiner gewohnten Umgebung und an Orten finden, die er
zum ersten Male betritt; wenn er innerhalb der gewohnten
Umgebung ungewohnten Hindernissen begegnet, denen er
geschickt ausweicht, oder wenn er — was schon häufig
beobachtet wurde — auf Dächern mit grösster Sicherheit
sich bewegt. Schon aus der Analogie mit dem magnetischen
Somnambulismus müssen wir schliessen, dass in solchen
Fällen ein eigentliches Hellsehen stattfindet. Bei dem Ausschluss
der normalen Sinneswahrnehmung ist die Hypothese
nicht zu vermeiden, welcher Lucretius die Worte
leiht: —
Reliquas tarnen esse vias in mente patentes,
Qua poasint eadem rerum simulacra venire.2)
Das „Hellsehen4* besagt nun, dass Gegenstände, die für
den normalen Gesichtssinn dunkel sind, hell gesehen werden
vermöge des von ihnen ausstrahlender „Odlichfces." Die
Nachtwandler können also als Sensitive im Sinne Reichenbach's
angesehen werden. Donnet beobachtete einen Nachtwandler,
der Nachts ohne Licht in den Keller ging und, wie es
verlaugt war, weissen Wein heraufbrachte. Befragt, wie er
in der Dunkelheit habe sehen können, entgegnete er, er
brauche kein Licht, für ihn seien alle Gegenstände leuchtend.3)
Die Orientirung in der Dunkelheit finden wir denn auch bei
den Sensitiven Reichenbach's. Einer derselben war durch
den Gebrauch von Schwefelbädern hellsichtig geworden, so
dass er Nachts das Schloss und die Beschläge seiner Thüre
leuchten sah. Eine Andere erkannte in der Dunkelheit alle
Gegenstände des Zimmers and griff mit Sicherheit nach
allem Metall, nach Thürschlössern, Angeln und Riegeln
der Fenster, Schlüsseln, metallenen Apparaten, eisernen
Oefen u. s. w. Eine Dritte versicherte, als man bedauerte,
sie so lange in der Dunkelkammer gelassen zu haben, dass
*) Tissiei — „Les reves.'1 103.
2) Lucretiusi — „De nat. an." IV. 977. — Die obige lateinische
Steile lautet in deutscher Uebersetzung: —
Dass im Geiste noch weitere Wege geöffnet,
Wodurch eben die Bilder der Dinge zu kommen vermögen.
8) Puysegur: —• „Kecherches." p. 80.
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