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230 Psychische Studien. XVIII. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1891.)
Baron v. Reichenbach, der, durch Experimente darauf geführt,
behauptet, dass alles seinen eigenen speciellen Duft habe,
den er Od nennt, und denselben ausströme. Sollte aber,
wie es in Wahrheit in meiner Familie vorgekommen ist,
denn in einem Zimmer, wo mehrere Menschen beisammen
sind und jeder seine individuelle Ausströmung hat, durch
diese Ausströmung, bei ihrer vielfachen Vermischung, die
doch nothwendiger Weise stattfinden muss, ohne Hülfe eines
anderen Organs, als die der Nase, zu bestimmen sein, wer
vielleicht zu der Gesellschaft kommt, oder wer von ihr
fortgeht ? Das scheint auf den ersten Blick starker Tabak
zu sein, den man dem geehrten Leser bietet; es grenzt fast
ans Fabelhafte und dürfte wohl als Märchen empfunden
werden. —
Giebt es denn nun wirklich Menschen, die mit so
ausserordentlich feinem Riechorgane ausgestattet sind? Hier,
sehr geehrter Herr Redacteur! bin ich in der sehr angenehmen
Lage, Ihnen selbst, der Wahrheit gemäss, diese
Frage beantworten und Ja sagen zu können, und bitte
deswegen mir gütigst zu gestatten, dass ich Ihnen Nachstehendes
aus meiner eigenen Familie mittheilen darf. Ich
möchte dies überschreiben: — »Die feine Nase."
Anfangs dieses Jahrhunderts lebte zu Freiberg im
sächsischen Erzgebirge ein Herr Benjamin Bernhard, Stadtmusikus
daselbst, mein Schwiegervater, mit seinen Eltern
in einem Hause zusammen, welches der Familie zu eigen
gehörte, und in dem der Grossvater eine Branntweinbrennerei
angelegt hatte und ein Restaurationsgeschäft betrieb. Der
Bau dieses Hauses, worin sich die Restauration befand, war
so wunderlich, vielleicht ursprünglich zu anderen Zwecken
eingerichtet, dass die Küche, die nach dem Hofe hinauslag,
dunkel war, aber an das sehr grosse Gastzimmer grenzte,
in das man durch ein kleines, später dort angebrachtes
Fensterchen in dasselbe hineinsehen konnte. Hier hielt sich
nun, um die weibliche Hilfsleistung zu kontrolliren und
selbstthätig zu sein, unsere liebe Grossmutter, meines
Schwiegervaters Mutter, zum grössten Theile des Tages und
Abends auf, damit die Bestellungen der Gäste möglichst
schnell und ordentlich besorgt würden.
Diese Frau hatte nun die wunderliche Gabe, jedes Mal
gleich zu wissen, gleichsam zu riechen, wie sie versicherte,
wenn ein Gast eintrat, der rothes Haar hatte, sobald sie
nur ein wenig das kleine, in das Gastzimmer führende
Fenster öffnete. Das ist vielfach aus Scherz untersucht und
immer für richtig befunden worden. — Zu humoristischen
Scherzen hat diese seltene Gabe vielfach Veranlassung
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