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Myers: Census von Hallucinationen.
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die es vorstellt; das heisst, es sagt mir nicht wirklich und
wahrhaft, dass Smith im Zimmer ist und auch ebenso gut
von anderen Personen gesehen werden würde, wie von mir
selbst. Und man beachte zu gleicher Zeit, dass ein deutlicher
— obgleich selbstverständlich nur augenblicklicher —
Act des Nachdenkens von meiner Seite erforderlich war,
um mich zu vergewissern, dass diese Gestalt nicht wirklich
Smith war. Dieser Act des Nachdenkens wäre nicht nöthig
gewesen, wenn ich blos ein Bild von Smith im Auge meines
Geistes heraufbeschworen hätte. Das wäre keine Hallucination,
das wäre eine Gestalt, welche mein bewusstes Selbst herbeirief
, und ich wüsste (in einem gewissen Sinne), warum es
käme, und wie es dorthin gelangte. Aber die unerwartete
Gestalt von Smith, welche zur Thür hereintrat, wurde von
einem unbewussten Theil meines Selbst herbei beschworen:
sie überraschte mich, sie war eine Hallucination.
Noch eins. Angenommen, ich gehe schlafen und träume,
dass ich Smith sehe! Ist das eine Hallucination? Die
Antwort muss lauten: — Ja, Träume sind Hallucinationen.
Es ist eine nicht durch bewusste Anstrengung hervorgerufene
Gestalt, sondern eine solche aus irgend einer unbewussten
.Region meines Geistes. Und ein Act des Nachdenkens ist
erforderlich, um mich zu vergewissern, dass es keine Wirklichkeit
ist. Der Act des Nachdenkens ist in diesem Falle
selbstverständlich so gewohnt und leicht, dass er gewöhnlich
unbemerkt vorüber geht; aber ein Traum kann leicht in
eine wache Hallucination übergehen. Ich kann von Smith
träumen, und nach dem Erwachen kann ich noch immer
einige Momente ihn neben mir stehend vermeinen. In einem
solchen Falle offenbart der Traum sich wirklich als eine
sinnliche Hallucination; da steht das Traum-Bild; und für
einige Momente täuscht es sogar die wachen Sinne.
Nun wohl, Hallucinationen sind Bilder, — Empfindungen
des Gesichts, Gehörs, Geschmackes, Geruches, Gefühles, —
welche keinem Objecto in der Welt um uns her eigen sind,
und nicht durch unseren bewussten Geist von Statten gehen,
sondern durch irgend eine Wirkung des Gehirns, deren wir,
unser anerkanntes gewohntes Selbst, uns nicht bewusst
werden. Und nachdem wir so weit mit unserer Definition
gelangt sind, sehen wir sofort, sowohl weshalb Hallucinationen
in vergangenen Zeiten sogar von Philosophen vernachlässigt,
oder als rein bedeutungslose Störungen unseres vernünftigen
Wesens behandelt worden sind, als auch weshalb sie, bei
dem gradweisen Aufsteigen einer immer tiefer eindringenden
Psychologie, zu einem hohen Interesse an und für sich selbst
gelangen.
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