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478 Psychische Studien. XVIII. Jahrg. 10. Heft. (October 1891.)
die Existenz unserer Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken
. Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es
blitzt. Zu sagen cogito ist schon zu viel, sobald man es
durch Ich denke übersetzt." —
Das ist nun unbestreitbar richtig, insofern, als wir unter
Ich den Träger unseres sinnlichen Bewusstseins verstehen.
Für dieses ist das Denken ein objectiver Vorgang und der
Gedanke nicht seine eigene That. Wohl aber gehört diese
That unserer transscendentalen Wesenshälfte an, der wir
vermöge ihres Denkens auch die Individualität zusprechen
müssen, ja eine gesteigerte Individualität, weil ihr oft gelingt,
womit unser bewusstes Ich sich vergebens abgequält hat*
Das sinnliche Bewusstsein ist also in gewisser Hinsicht
das störende Element im Denken. Dies zeigt sich deutlich
auch darin, dass in jedem tiefen Nachdenken das Bewusstsein
der Aussenwelt und unserer eigenen Persönlichkeit
spontan verloren geht. Diesen Zustand des Traumarbeiters
zeigen tiefe Denker oft mitten im Wachen. So war es bei
Sokrates,1) bei Carneades?) bei Plotinf) bei Jamblichusf) und
das wurde bei Archimedes sogar die Ursache seines Todes.5)
— Jeder Dichter und jeder Philosoph weiss es, dass es
keine bessere Förderung seiner Arbeit giebt, als dass er sie
dem Unbewussten überliefert, worin sie recht eigentlich wie
in natürlichem Wachsthumsprocesse ausreift, weil eben
das Unbewusste das Organisirende ist, daher es die eigen-
thümlichen Merkmale seines Functionirens nicht nur seinen
Organen ertheilt, sondern auch den Producten seines transscendentalen
Denkens, was ich schon anderwärts gelegentlich
des goldenen Schnittes und des kleinsten Kraftinaasses
erörtert habe. Das Wesen, von welchem Lichtenberg sagt,
dass es in uns denkt, ist also nicht jenes, welches mit
Bewusstsein sein Erkenntnissorgan gebraucht, sondern
vielmehr jenes, welches vorbewusst dieses Erkenntnissorgan
gebaut hat. So nur können die Analogien cognoscendi et
generandi erklärt werden.
Im Phänomen des Traumarbeiters ist also die Wurzel
unseres Wesens biosgelegt, und das sogenannte Unbewusste
entpuppt sich als gesteigerte Individualität, als transscen-
dentales Subject. Unzulänglich ist die materialistische Erklärung
, die nur ein rein physiologisches Abschnurren durch
lange Uebung befestigter Gehirnprocesse erklären könnte;
*) Piaton: — „Gastmahl".
2) Valerius Maximus I, 8. 5.
8) Porphyrius: — „Vita Plotini".
4) Eunapius: — „Vit. phil."
5) Liviusi — „Hist." I, 28. — Valerius Maximus v. 28. 7.
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