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514 Psychische Studien. XVIII. Jahrg. 11. Heft. (November 1891.)
In diesen unruhigen Zeiten wurden die aus alter Zeit
herübergeretteten Handschriften und Volksüberlieferungen
ergänzt, überarbeitet und das früher Verlorene durch Erlebnisse
der Gegenwart oder Erinnerungen der nächsten
Vergangenheit ersetzt. Im 11. und 12. Jahrhunderte
sammelte man fortgesetzt die Trümmer und redigirte die
Textegaufs Neue. Es ist nicht wunderbar, dass bei solcher
Redaction der Viten berühmter Heiligen des 5. und 6. Jahrhunderts
die dunklen Erinnerungen an die Zustände Irlands
im 9. und 10. Jahrhundert mit verwerthet wurden. Prof.
Zimmer glaubt, dass manches von dem Heidenthum, das uns
in den Viten irischer Heiligen des 5. und G. Jahrhunderts
in Aufzeichnung vorliegt, die jünger sind als 10. Jahrhundert,
nicht echtirisches Heidenthum des 5. Jahrhunderts re-
präsentirt, sondern heidnische Bräuche und Zustände auf
Irlands Boden aus dem Vikinger - Zeitalter im 9. und
10. Jahrhundert. Es fanden üebertragungen statt aus der
Zeit der zweiten Ohristianisirung (der Vikinger-Iren) auf
Träger der ersten Ohristianisirung Irlands im 5. Jahrhundert,
resp. deren Nachfolger im Beginn des 6. Jahrhunderts;
nach der Mischung von Christenthum und Heidenthum auf
Irlands Boden im 9. und 10. Jahrhundert legte man sich
im 11. und 12. Jahrhundert die Zustände des 5. und
(i. J ahrhunderts zurecht, nach denen um 562 ein St. Columba der
Aeltere mit zwölf Genossen an die schottische Küste auszog,
um von hier aus die Bekehrung der Pikten zu unternehmen.
Eine ans Wunderbare streifende Wanderlust, ein unbezwing-
licher Trieb, das Christenthum den Heiden zu predigen,
erfasste von der Mitte des Ö. Jahrhunderts an die bereits
um 500 vollständig christlich gewordenen Iren. Ende des
6. Jahrhunderts (595) verlässt Columban, ein in Leinster
geborener Ire, mit zwölf Genossen das Kloster Bangor im
Norden von Ulster, um den heidnischen Germanen auf dem
Contment das Christenthum zu predigen. Einer seiner
Genossen, Gallus, wird der Apostel des Alemannenlandes.
(Er ist der Begründer des Klosters St. Gallen und seines
Christenthums, das uns in Victor von Sehe/fers berühmtem
Zeitroman „Ekkehard" mit all seinen Sitten und Gebräuchen
in Glauben und Aberglauben an Teufel und Dämonenspuk
entgegentritt.) Im 7. und 8. Jahrhundert treffen wir Iren
als Missionare in Schaaren nicht nur im Frankenlande links
des Rheines, soLClern auch in Thüringen, Ostfranken
(Würzburg), Baiern (Salzburg); die Missionare der Friesen
und Sachsen haben in Irland ihre theologische Bildung
genossen, denn die irischen Klöster waren im 7. und 8. Jahrhundert
die hohen Schulen kirchlicher Wissenschaft, wohin
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