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104 Psychische Studien. XIX. Jahrg. 3. Heft. (März 1892.)
Wir lesen in demselben Folgendes: —
In der „Kathedrale" des Atheismus, der „Halle der
Wissenschaft" (Hall of science) in Old-Street spielte sich
am Sonntag Abend eine merkwürdige Scene ab, welche
nicht nur der Duldung unserer Freidenker alle Ehre macht,
sondern auch ein schönes Zeugniss für das im englischen
Volk so tief eingewurzelte Bewusstsein für das Recht der
Rede-, Glaubens- und Gedankenfreiheit abgiebt. Man denke
sich eine der Hauptstützen einer politischen Partei oder
einer religiösen Gemeinschaft, die plötzlich ihren Glauben
wechselt, ins gegnerische Lager überläuft, ihre bisherigen
Genossen des Irrthums zeiht, und die dann in ihrer Mitte
erscheint, um ihnen ihren Abfall anzuzeigen, und diu
nicht nur geduldig angehört, sondern mit den Zeichen der
grössten Sympathie überschüttet wird. Diese Scene spielte
sich in der Hall of science ab, wo Mrs. Annie Besant, welche
anlässlich des hygienischen Kongresses als Befürworterin
der freien Mahlzeiten in den Volksschulen an dieser Stelle
genannt wurde, erschien, um Abschied von ihren bisherigen
Freunden zu nehmen, ihren Unglauben abzuschwören und
ihre Bekehrung zum Theosophismus anzukündigen. Es
gehört Muth dazu, aber Mrs. Annie Besant besitzt den Muth
der Ueberzeugung; sie ist aus dem Stoff gewoben, der
Märtyrer gemacht hat, und eine Märtyrerin war sie.
Als sie den Glauben an Gott verlor. als sie nicht länger
sich als Christin bekennen konnte, gerieth sie mit ihrem
Gatten, einem angesehenen anglikanischen Geistlichen, in
einen Zwist, der nur mit der Trennung endigen konnte.
Sie schied von ihm; sie verliest ein glückliches Heim; sie
tauschte das Wohlleben mit der Ar muth ein; sie nahm den
Hohn und Spott und die Verachtung der Welt mit in den
Kauf, und selbst als das Gesetz in Bewegung gesetzt und
ihr die einzige Tochter als einer Person entrissen wurde,
die ungeeignet sei, für die Erziehung ihres Kindes zu sorgen,
da gab sie blutenden Herzens auch ihr Liebstes hin und
behielt ihre Ueberzeugung. Und jetzt fingen die Verleumdung
und die Verfolgungswuth ihr dunkles Spiel zu treiben an.
Sie hatte zu arbeiten, um leben zu können, und kein Mittel
war ihren Feinden zu schiecht, um ihr dies unmöglich zu
machen. Diese Intriguen misslangen wohl, sie verbitterten
aber der Verfolgten ihr Dasein, Ihre Gegner hatten aber
für die schöne und damals noch junge Frau giftige Pfeile
in dem Köcher. Die skandalösesten Gerüchte wurden über
sie in Umlauf gesetzt und ihre Frauenehre in den Koth
gezerrt.
Als Mrs. Besant nun gar mit ihrem Freunde und
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