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Wittig: Mrs. Annie Besant.
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Beschützer Charles Bradlaugh die „Früchte der Philosophie"
veröffentlichte, um „dem Fluch der Armen44, dem überreichen
„Kindersegen" entgegenzuwirken, da erhob die Verleumdung
so frech ihr Haupt gegen die bedauernswerthe Frau, dass
sich ihr Gatte berechtigt glaubte, die Ehescheidungsklage
wider sie einbringen zu können. Dies bot Mrs. Besant
willkommene Gelegenheit, die Grundlosigkeit alier wider sie
in Umlauf gesetzten böswilligen Behauptungen zu erweisen
und dann von der Defensive zur Offensive überzugehen.
Vollständig geschlagen, zogen sich ihre Feinde zurück, und
mit Müsse vermochte sie nun, in Wort und Schrift für ihre
Ueberzeugung einzutreten. Bald war sie die anerkannte
Hohepriesterin des Atheismus in England, und die
„Predigten" der geistreichen Frau versammelten allsonntäglich
eine andächtige Gemeinde in der „Halle der
Wissenschaft", um den Ausführungen der beiden Apostel
Bradlaugh und Besant zu lauschen, welche die Pflicht als
den bindenden Kitt der Menschheit und die Moral als eine
Naturnotwendigkeit darstellten, ohne welche die menschliche
Gesellschaft nicht bestehen könnte. Sechzehn Jahre lang
war Mrs. Besant die Verfechterin und die berufenste Vertreterin
des Freidenkerthums, und jetzt ist sie abgefallen.
Warum? Der Grund ist sensationell. Sie, deren Wahrhaftigkeit
über allen Zweifel erhaben ist, hat gelernt,
„durch Zeichen" an das Uebernatürliche zu glauben!
Heben wir einen Theil der wirklich ausgezeichneten und
oft ergreifenden Rede heraus, mit welcher Mrs. Besant jetzt
von ihren früheren Genossen und der „Halle der Wissenschaft
", die bis auf das letzte Plätzchen gefüllt war,
Abschied nahm.
„Ihr Alle wisst", sagte sie, „welche bitteren Kämpfe
ich durchstritten, und was ich gelitten. Und doch bedauere
ich nicht den Schritt, den ich im Jahre 1872 unternommen.
Ich weiss, dass die Geschichte uns nicht nach unseren
Worten, sondern nach unseren Thaten richtet. Ich brach
damals mit dem Christenthum, und ich habe damit ein für
allemal gebrochen. Ich habe nichts zu widerrufen; ich
stehe mit Bezug auf das Christenthum heute dort, wo ich
vor zwanzig Jahren stand. Ein Mann kann vermittelst der
logischen Gewalt mit Ueberzeugungen, die er gehalten,
brechen, ohne eine Regung des Bedauerns zu empfinden;
ich zweifle aber, dass es eine Frau giebt, die mit ihrem
Glauben brechen kann, ohne es mit ihrem Herzblut zu
bezahlen. Und doch sprechen Leute leicht von dem
Wechsel des theologischen Glaubens; sie können niemals
tief empfunden haben. Mir wurde es furchtbar schwer,
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