http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1892/0139
Wittig: Ein Mahatma. Nach Mr. Crawford.
131
wenn ein Stück, d. h. eine Thatsache fehlt, so ist es doch
möglich, dessen Grösse und Form nach den angrenzenden
Theilen zu bestimmen, obschon die Einzelheiten von Farbe
und Zeichnnng fehlen. Ich hoffe, ich habe Ihnen klar
gemacht, was ich meine, obschon ich mir bewusst bin, dass
ich nur die Umrisse eines Unterschiedes skizzirt habe, den
ich für fundamental halte/ — ,Freilich ist er fundamental.
Es ist der Unterschied zwischen analytischem und
synthetischem Denken, zwischen subjectiver und objectiver
Anschauung, zwischen der beschränkten Auffassung einer
begrenzten Welt und dem unbegrenzten Ideal vollkommener
Weisheit. Ich verstehe Sie vollkommen.' — 'Sie geben mir
fortwährend Räthsel auf, lsaacs. Wo haben Sie gelernt,
von ,analythisch' und synthetisch', von ,subjectiv' und
,objectiv*, von transscendentaler Analyse und all dergleichen
zu sprechen? — Es schien seinem Geiste so ganz zu
entsprechen, dass ihm der Gebrauch philosophischer
Ausdrücke geläufig war, und darum war es mir nicht
sofort aufgefallen, wie seltsam es wäre, dass ein Mann von
durchaus orientalischer Bildung etwas von diesen Sachen
wissen sollte. Seine weitgefasste Anwendung der Worte
'analytisch1 und 'synthetisch1 auf meine beiden Beispiele
erregten meine Aufmeiksamkeit und brachten mich auf die
so eben gestellte Frage. — ,Ich habe viel gelesen', sagte
er einfach. Dann setzte er nachdenklich hinzu: — ,Ich
glaube fast, ich habe einen philosophischen Verstand. Der
alte Mann, der mich, als ich noch ein Knabe war, zu
Stambui in der Theologie unterrichtete, pflegte stundenlang
mit mir über Philosophie zu sprechen, obschon er vorrauthlich
nicht viel davon verstand. Er war so ein mühseliger Arbeiter
und stieg, um Belehrung zu suchen, Leitern in die Höhe,
ganz wie Sie es beschrieben haben. Aber gegen mich war
er gütig und geduldig. Der Friede Allah's sei mit ihm!' —
Es war spät, und bald darauf trennten wir uns für die
Nacht. Der n'ic^ste Tag war ein Sonntag, und ich hatte
einen Haufen Briefe zu beantworten; und so verabredeten
wir, nach dem Tiffin auszureiten, ehe wir bei Mr. Ghyrkins
(dem Onkel) mit den Westorihaughs speisten. — Ich ging
auf mein Zimmer und las eine Weile in Kant, den ich
immer auf Reisen mitführe, —- eine Art Stein der Weisen,
an welchem man die Werkzeuge des Geistes wetzt, wenn
sie durch das Bohren in die geologischen Schichten der
Gedanken anderer Leute stumpf geworden sind. Ich war
zu sehr mit der Persönlichkeit des Mannes, mit dem ich
eben gesprochen, beschäftigt, um lange zu lesen; so überliess
ich mich der Träumerei, indem ich auf die Ereignisse des
9*
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1892/0139