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Kurze Notizen,
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beliebter, aber auch gefürchteter Amtswaehtmeister. Als
wir die Landstrasse im prachtvollen Müglitz-Grunde, den
rauschenden Müglitzbach zur Linken und an reizenden
Felsenpartieen entlang fuhren, wo heute die Sekundärbahn
geht, welche damals noch im Bau begriffen war, demonstrirte
uns der alte 64jährige Herr mit sudlicher Lebhaftigkeit und
glänzenden blauen Augen über seinem weissen Knebelbarte,
wie er im Jahre 1886 ganz allein die damals heranrückenden
Preussen durch sein mächtiges Halt vor der altersgrauen
Burg Lauenstein, auf der er im dortigen Amtsgericht angestellt
war, eine Zeit lang vom weiteren Vorrücken
abgehalten und mit dem Offizier der Abtheilung lange
parlamentirt habe. Uns Anderen amüsirte seine Donquixoterie
dabei, und in lebhaftem Austausch unserer gegenteiligen
Ansichten und freundlichen Neckereien kehrten wir im
unteren Gasthofe des Gebirgsstädtchens ein, wo wir uns ein
nach dortigen Begriffen lukullisches Mittagsmahl aus verschiedenen
Gängen bestellten. Unsere Aufwartung war ein
junges schlankes Mädchen von 17 Jahren, die ich im Anfang
gar nicht gross beachtete, weil ich noch in fortdauernden
Auseinandersetzungen über unseres Wachtmeisters forcirte
Heldenthaten mit meinen beiden anderen Reisegefährten
begriffen war. Plötzlich fiel mir das junge hübsche Mädchen
mit dem sonderbaren Bau ihres weissen Gebisses auf, das
prognathisch im blassen Gesicht etwas vorstand und auf
mich sofort den unheimlishen Eindruck eines Todtengesichtes
machte» Zu meiner stillen Verwunderung wendete sie
während der ganzen Zeit, in der sie uns bediente, ihre
Aufmerksamkeit und Blicke keineswegs uns, auch wenn
wir sie gelegentlich ansprachen, sondern nur dem allerdings
das grosse Wort führenden Wachtmeister zu, den sie
wegen seiner freundlichen Scherze fort und fort fast frostig
anlächelte, während er in seinen Heldenthaten immer
weiter renommirte. Ich machte gelegentlich dem neben
mir links sitzenden Cantor und ebenso auch meinem rechts
sitzenden Schwager eine leise Bemerkung über diesen
meinen unheimlichen Eindruck. Inmitten unserer Tafelei
wurde das Mädchen vom Wirth in die Küche abgerufen
, weil eine Menge neuer Gäste eingetroffen war,
und den Rest derselben bediente uns ein Kellner. Wir
besuchten alsdann die Kirche, und nach einer schönen
ürgelprobe des uns begleitenden Cantors gingen wir mit
dem Cantor des Ortes in den oberen Gasthof, wo mich
der Wachtmeister plötzlich vertraulich am Arme nahm und
seitwärts in die Laube einer Veranda führte, in der er
viele herrliche Abendstunden vor mehreren Jahrzehnten
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