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Wittig: Ein Mahatma* Nach Mr. Crawford. 171
oder auch nach einiger Zeit, kann man nicht sehen, dass
der sanft ansteigende Hügel ein Berg von 5- bis 6000 Fuss
Höhe ist; in Simla will man nicht glauben, dass man
3000 Fuss höher ist als der Rigi Oulm in der Schweiz.
Leute, welche das amerikanische Felsengebirge gut kennen,
wissen, dass diesen ungeheuer hohen Gebirgsmassen der
Charakter der Erhabenheit fehlt. Sie sind bloss gross,
ohne erhabene Schönheit, bis man an Stellen kommt, welche
von der Hand der Natur besonders begünstigt sind, wo
grosse Gegensätze den Abstand zwischen Hoch und Niedrig
in überwältigender Weise zur Anschauung bringen. Ebenso
ist es im Himälaya-Gebirge. Man kann Stunden und Tage
lang durch grosse Wälder und Berge reisen ohne die
geringste Empfindung von Freude an der Landschaft oder
ein Gefühl von Bewunderung dafür, bis der Weg plötzlich
an den schwindelnden Rand eines furchtbaren Abgrundes
führt, — ein so entsetzlicher schreckensvoller Absturz, dass
die aufregendsten Erinnerungen an den Montblanc, die
Jungfrau und den grässlich schroffen Grat des Pic Bernina
daneben unbedeutend erscheinen. Die Kluft, welche uns
von dem Berge trennt, erscheint wie ein riesiger Bissen,
welchen ein gieriger Gott aus der Welt herausgerissen hat;
in weiter Ferne erheben sich Schneeberge, von denen wir
uns auf unserer Alpenreise nichts träumen Hessen; das
bodenlose Thal zu unseren Füssen ist nebelhaft und voll
nächtlichen Dunkels, mit Nebelstreifen dazwischen, während
die Spitzen darüber froh zur Sonne empor schiessen und
ihre Strahlen wie majestätische weisse Banner auffangen.
Während wir so, vorsichtig an den Berg hinter uns gelehnt,
dastehen, schwebt eine seltsame Erscheinung, welche sich
kaum bewegt und doch nicht still ist, zwischen uns und
dem wundervollen Hintergrunde weit vor uns. Ein grosser
goldener Schild zieht ruhig in weiten Kreisen umher und
wirft das Sonnenlicht in allen Schattirungen hellen Metallglanzes
zurück. Der Goldadler des Himälaya schwebt
mitten in der Luft; dem Auge erscheint er wie eine polirte
Metallplatte, manchmal im vollen Glanz des Widerscheins
stille haltend, wie vor Zeiten Sonne und Mond stille
standen über dem Thal von Ajalon; zu prachtvoll, um ihn
zu beschreiben, ist er zu blendend, um ihn anzuschauen.
Das ganze Bild, wenn man es so nennen kann, ist in seiner
ungeheueren Länge, Breite und Tiefe so titanenhaft, dass
man ihm zitternd, schwach und rathlos gegenüber steht,
wenn man es zum ersten Male erblickt. Solche Massen
dieser Welt hat man nie zuvor erschaut.
„An einer solchen Stelle, beinahe um Mittag am
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