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210 Psychische Studien. XIX. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1892.)
hocbgeschwollenen Fluthen der Wüthenden Neisse deren
steile Thalränder hinab gedrängt, über die nur wenige
unzureichende Brücken führten. In den Hohlwegen und
Schluchten wurden die Flüchtigen durch festgefahrene
Kanonen und Bagagewagen aufgehalten. Die sich in den
Fluss stürzten, um über ihn zu schwimmen wurden meist
von den reissenden Fluthen mitfortgespült. Vergebens
hielten zwei französische Bataillone auf der Höhe von
Weinberg noch einige Zeit Stand. Die Artillerie der
Verbündeten rückte bis an den Thalrand vor und vollendete
die Niederlage des Feindes.
Während dieses schreckensvollen regnerischen und
stürmischen Nachmittags und Abends befanden sich unsere
armen Flüchtigen in einer Höhle, dem sogenannten
„Gottsbriehloche am blauen Stein*' mitten im Mönchswalde
(vergl. „Psych. Stud." Juli-Heft 1888 S. 334, Note), unter
dem von den Bergen fürchterlich wiederhallenden Kanonendonner
zitternd und bebend und betend versteckt, und
mussten dort in Todesangst die feuchte und kalte Nacht
zubringen. Als sie am anderen Morgen nach Henneisdorf
in trostvoller Begleitung des Grossvaters, der sich von
Wilmsdorf ans ihnen mitten im Bergwalde wieder zugesellt
hatte, zurück kehrten, fanden sie das vordere halbe Dorf
(das ganze Dorf enthielt gegen 76 Häuser in 65 Besitzungen
mit ca. 500 Einwohnern), £.enpu bis zu Grossvaters etwas
abseits und hoch von der Dorfs^ras^e und dem das Dorf
durchmessenden Bache liegenden Grundstücke Nr« 39 in der
Mitte des Ortes, zerstört und niedergebrannt, ihr E'genthum-
aber arg durch Kugeln verwüste* und aMes ringsum weit
und breit mit Todten, jammerrden und stöhnenden Verwundeten
und Sterbenden arge-Tüllt. Hier galt es hilfreich
beizuspringen, so viel man in seiner nächsten Umgebung
vermochte. Die Franzosen befanden sich an diesem Morgen
in voller Flucht rings um die Jauerschen Berge auf
Schönau, Goldberg und Löwenberg zu, von den verbündeten
Russen und Preussen zunächst mit ihren Kosacken und
Husaren verfolgt. Es blieben nur wenige Patrouillen zur
Säuberung der Schlachtfelder zurück. Da es an Arbeitskräften
mangelte, so mussten in den nächsten Tagen Grossvater
und Grossmutter gemeinsam alle Morgen von 4 Uhr
ab die Gefallenen von Hermannsdorf bis Seichau hin mit
in grossen Gruben beerdigen helfen, welche mit viel Kalk,
Steinen und Erde zugeschüttet wurden. Der Grossvater
hatte bei dieser Gelegenheit eine grosse Menge russischer
Gewehre und Waffen gesammelt, die er alle an den Schulzen
des Ortes abzuliefern hatte. Am zweiten Tage nach der
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