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214 Psychische Studie*. XIX. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1892.)
dass, die Einzelerscheinungen zu beschreiben, der letzte
Zweck der Wissenschaft sei; neben den principiell wichtigen
Erscheinungen werden deshalb die gleichgültigsten und
theoretisch werthlosesten mit gleichem Eifer behandelt. Die
Scholastiker verwandten auf die Lösung ihrer unfruchtbaren
Probleme doch wenigstens Scharfsinn; um aber Zahlenmassen
aus unfruchtbaren Experimenten zu produciren, bedarf es
lediglich einer gewissen Abhärtung gegen Anwandlungen
von Langeweile." — Ungeachtet dieser Uebereinstimmung
mit dem Verfasser kritisirt Dr. Kronenberg die zu wenig
scharfe Abgrenzung der Psychologie nach der Seite der
Naturwissenschaften hin, und die allzuscharfe nach der Seite
der Philosophie im engeren Sinne hin. Verfasser habe „die
Objecte der Psychologie ebenso fest umgrenzen wollen wie'
diejenigen der Naturwissenschaften und deshalb die
psychischen Erscheinungen mit Bewusstseinsvorgängen
gleich gesetzt, d. h. das Bewusstsem ist ihm das unterscheidende
Kennzeichen alles psychischen Geschehens. 'Ein
Bewusstseinsinhalt', heisst es in dieser Rücksicht, 'der nicht
bewusst ist, gleicht nicht etwa einem Körper, der nicht
wahrgenommen wird, sondern einem Körper, der nicht ist,'
Es wäre für die Vereinfachung und Sicherung der wissenschaftlichen
Arbeit wünschenswerth, wenn diese Ansicht
richtig wäre; aber leider ist das nicht der Fall. Das ganze
grosse Gebiet des unbewussten Seelenlebens wird damit
einfach wegdekretirt, und wenn man dieses vielleicht auch
als unerkennbar preisgeben wollte, wo bleibt dann die
Thatsache von den verschiedenen Abstufungen, wie der
Gradation des Bewusstseins? Nach jener Annahme müsste
es also psychische Erscheinungen geben, die mehr oder
weniger sind als andere. Aber sieht man auch hiervon
ab: es ist eine unbezweifelbare Thatsache, dass in allem
bewussten geistigen Geschehen neben dem Inhalte der
Bewusstseinsthatsache noch die Beziehung derselben auf
die Einheit des Subjects hervortritt. Für diese Eigen-
thümlichkeit findet sich allerdings nirgendswo ein Analogon
in der Natur, sie ist schwierig zu begreifen und schafft
namentlich der empirischen Forschung eigenthümliche
Schwierigkeiten; aber wenn auch dahin gestellt sein mag,
wie dieselben zu überwinden sind, es darf jedenfalls nicht
dadurch geschehen, dass man um jene Thatsache (Die
Existenz einer Seele — Ref.) sich einfach nicht kümmert,
um der Analogie mit den Naturwissenschaften zu Liebe
einen bequemen Ausgangspunkt zu gewinnen." — Verfasser
habe aber auch die Psychologie zu scharf von der Philosophie
abgegrenzt. Die Psychologie gehöre zu den Geistes-
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