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290 Psychische Studien. 7. Heft. XIX. Jahrg. (Juli 1892.)
spalterei, eine Wortklauberei, die Streitenden mit einer
Wuth zu entflammen, in der sie einander nicht wie
wilde Bestien rasch zerfleischten, sondern wie Teufel mit
Vorbedacht langsam zu Tode marterten. Wenn wir den
Tod des Sokraies mit den Hinrichtungen sogenannter Ketzer
durch die Obrigkeiten aller drei christlichen Oonfessionen
und von wirklichen oder vorgeblichen Staatsverbrechern
vergleichen, wie sie noch im vorigen Jahrhundert vorgekommen
sind,*) so strahlt das athenische Volk, nicht
bloss Sokratesj sondern auch seine Feinde, in einem reinen
Glänze, vor dem wir Christen beschämt die Augen niederschlagen
müssen. Es war doch nichts Geringes, dass sich
die Angesehenen der Stadt so viele Jahre hindurch seine
ironische Kritik ruhig hatten gefallen lassen, und für das
ohnehin zerfahrene Gemeinwesen erschien es in der That
als eine Gefahr, wenn die jungen Leute ganz allgemein zur
Gewohnheit des Kritisirens erzogen wurden. Der Gedanke,
den Mann unschädlich zu machen, war also natürlich. Aber
wie wurde er ausgeführt? Nicht in Form eines feigen
heimlichen Justizmordes, sondern in der Form eines öffentlichen
Processes. Die Richter Hessen den Mann ausreden,
obwohl sie wussten, dass sie durch seine Worte tief
gedemütigt werden würden, dass die Rede das Ansehen
des Angeklagten erhöhen und die Verehrung seiner Anhänger
zur Schwärmerei steigern würde. Seine Schüler und Angehörigen
durften ihn im Gefängnisse besuchen, selbst der
Kerkermeister war freundlich gegen ihn, keine leibliche Pein
wurde ihm zugefügt, kein unzarter Hauch, geschweige denn
eine Rohheit oder Grausamkeit, trübt die göttliche Schönheit
des unsterblichen Gedichts, in dem uns sein Schüler
Plato erzählt, wie der Meister in Andachtsstille (ev ev<p7]kula)
hinüber geschlummert sei zur Genesung. Forscht man nach
den grössten Scheusalen, die das Menschengeschlecht misshandelt
und geschändet haben, und nach der schlimmsten
sittlichen Verworfenheit grösserer Kreise, so findet man sie
weder bei den Negern, noch bei den Türken, noch bei den
römischen Imperatoren, — beim Griechenvolke gleich gar
nicht, — sondern leider in der Christenheit.
„Vier Lebenskreise sind es, in denen sich dieses
fanatische Element konzentrirt hat: der Hof von Byzanz,
namentlich in der Periode der Glaubensstreitigkeiten, die
*) Wir erinnern hierbei an den grausigen Fall unter Karl X1L,
welcher den schwedischen Baron Johann Reinhold von Patkul auf eine
scheussliche Art unschuldig hinrichten liess, s. „Psych. Stud." Mai-Heft
X890 S, 212 fi. in „Die Vision KarH XL von Schweden," —
Der Sekr. d, Red,
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