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382 Psychische Studien. XIX. Jahrg. 8. Heft. (August 1892.)
Katholiken kaum ein Dutzend evangelischer Einwohner
zählt. Das Treiben der Berliner Spiritisten dagegen wird
durch die Art, wie die Kreise dieser Gläubigen sich durch
Propaganda zu erweitern suchen, zu einer Angelegenheit
von allgemeinem und öffentlichem Interesse.
Obwohl nun beide Fälle in moralischer und forensischer
Hinsicht grundverschieden liegen, ist es doch ganz lehrreich,
sie einmal gemeinsam und vergleichsweise zu betrachten. In
der öffentlichen Discussion, die sich natürlich hier wie da
über die Leichtgläubigkeit der Menge als über die einzelnen
Personen erstreckte, trat eine gewisse Verschiedenheit, ja
man rauss sagen, eine Ungerechtigkeit hervor. Dort wurde
eine Erscheinung, die sich aus dem Mittelalter in unsere
Zeit verirrt hatte und noch ganz im altmodischen Gewände
einherging, mit Spott und Hohn durch die Gassen gejagt.
Hier trat eine ganz ähnliche Erscheinung auf, aber in ein
modernes Kleid gehüllt, mit einer Art wissenschaftlichen
Aufputz versehen, und diese barocke Verzierung eines
mittelalterlichen Wesens mit modernem Putz und Flitter
wurde doch immerhin ernsthaft gemustert und an einzelnen
Stellen sogar einer gründlichen Prüfung gewürdigt. Wenn
ein Bauernknabe sich von bösen Geistern geplagt wähnt,
und ein frommer Pater ihm seinen geistlichen Beistand
leiht, so liegt darin am Ende selbst in unserer Zeit nichts
sonderlich Auffallendes. Wenn aber ein Doctor der Philosophie
,*) der, wenn wir nicht irren, an einer angesehenen
Berliner Lehranstalt öffentliche Vorträge hält, vor Gericht
seinen Glauben dahin bekennt, dass irgend eine nervöse
Person im Stande ist, die Geister der Abgeschiedenen zu
citiren und zu schriftlichen und mündlichen Meinungsäusserungen
zu veranlassen, so ist das eine ungeheuerliche
Erscheinung, die um so mehr Aufsehen erregen muss, wenn
man weiss, dass sie in den Kreisen der Gebildeten durchaus
nicht vereinzelt dasteht. Wer die Berliner Gesellschaft
kennt, der erfährt, mehr als es aus Zeitungsberichten
ersichtlich ist, in wie beträchtlicher Zahl besonders jüngere
Männer dieser plumpen Mystik des Spiritismus zuneigen.
Und in anderen Groszstädten geht es ähnlich zu. Es ist
neuerdings recht zweifelhaft geworden, ob die Organe der
*) War nicht Zöllner auch ein Dr. phil. und Professor der Astrophysik
— und brachte in seinen „Wissenschaftl. Abhandlungen", durch
selbstbeobachtete Thatsachen dazu gezwungen, ähnliche Glaubonsansichten
zu Tage? Man lese, was er über den schwäbischen
Theologen Friedrich Christoph Oetinger (geb. 1702, f 1782) und
dessen Dämonenglauben im III. Bd. der „Wiss. Abbandl.** S. 559 fi.
beibringt — Die Red.
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