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478 Psychische Stadien. XIX. Jahrg. 10. Heft. (October 1892.)
darf, und sollten Sie die Begebenheit für werth halten,
dass sie veröffentlicht würde, so benutzen Sie dieselbe ganz
nach Ihrem werthen Belieben. Ich möchte den Fall nennen:
— „Telepathie einer Sterbenden."
In Lindenau-Leipzig wohnte eine unserer Verwandten,
eine wohlhabende Frau in vorgerückten Jahren, mit ihrer
einzigen Tochter, einem Mädchen von achtzehn Jahren, die
uns Beide bisweilen besuchten, ganz allein. Am genannten
Tage zur angegebenen Stunde, als das Mittagsessen
beendigt war, wurden meine Kinder, mein Schwiegersohn
Herr Gröschner nebst Frau (meiner Stieftochter Selma),
veranlasst, auf den äusseren Saal zu treten: da kommt eine
Frau von der oberen Treppe herab und fragt: — „Wohnen
hier Gröschner's?" — Nachdem ihr das bejaht worden,
erzählt sie, man habe sie in Lindenau-Leipzig, wo sie zu
Hause sei und unsere Verwandte Riekchen, deren ich
Eingangs gedacht, wohne, hierher geschickt mit der
Weisung, Herrn Gröschner zu veranlassen, dass derselbe
sogleich nach Lindenau-Leipzig kommen möge, weil
Riekchen ernstlich krank geworden sei» Nachdem die Frau
sich ihres Auftrags entledigt, entfernt sie sich, sowie
ebenfalls Herr Gröschner, der sich schleunigst zum Ausgehen
ankleiden will. Kaum ist die Botin die Treppe
hinunter gekommen und im Parterre angelangt, so klopft
es mehrere Male ganz laut und deutlich an die Wand der
Küche, die an der Treppe liegt. Unsere Köchin, die, um
den Nachmittagskaffee zuzubereiten, sich eben in der Küche
befindet, hört mit Erstaunen das Klopfen ganz genau,
glaubt aber, es rühre von Herrn Schmidt, Ehemann einer
meiner Enkeltöchter von mir, her, der sich gerade zur
Verschönerung unserer Wohnung bei uns auf dem Saale
befand. Dem war aber nicht so, denn als das Mädchen
den jungen Mann fragte, ob er geklopft hätte? zeigte ihr
derselbe, dass er sich auf einer ganz anderen Seite des
Saales befunden hatte, von wo aus es ihm ganz unmöglich
gewesen wäre, an diese Wandseite zu klopfen.
Unterdessen hatte sich Herr Gröschner, um der Einladung
schleunigst zu folgen, schnell angekleidet, verliess
in aller Eile unsere Wohnung und begab sich, die Pferdebahn
benutzend, nach Lindenau-Leipzig zu unserer Kranken.
Als er aber kaum in deren Haus eingetreten war, hört er
zu seinem grossen Bedauern, dass dieselbe bereits verschieden
sei. — Nach der Zeit des Todeseintritts, wie ihn die
Lindenauer angaben, bestimmt zu schliessen, kann das
keine andere gewesen sein, als die, wo es an unserer
Küchenwand geklopft hatte! —
s
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