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520 Psychische Studien. XIX. Jahrg. 11. Heft. (November 1892.)
sehen mich diesen Gegenstand fixiren; sie „wollen" ihn auch
und machend mir nach. Mir genügt dieser eine Punkt aber
nicht; ich zerstreue (deconcentrire) meinen Blick von dem
einen Punkte aus (mein Blick wird lebendiger) auf die
nächste Umgebung. Jetzt habe ich in dieser noch einen
interessanten Punkt gefunden, und mein Blick umfasst
diese beiden Punkte. So gehts weiter. Andere machens
mir nach, wieder Andere aber bleiben in der Concentration
des Blickes befangen. Wenn es mich nicht zu weit führte,
so vermöchte ich auf solche Weise — unter Hinweis auf
meine Erörterung vom „Schauen" der lebendigen Gotteskräfte
— die Entwicklung des Organischen von der Zelle
an auszumalen (Urzeugung). Aber ich denke, der Leser
hat mich bereits verstanden,• und es erübrigt nur noch,
Folgendes zu erwähnen, bevor ich weiter gehe: —
So lange das dem „Wollen" „Gebotene" sich in nächster
Nähe des zuerst erfassten Punktes befindet, bleibt die
Entwickelung naiv, weil vorgezeichnet; ich muss eben zum
Nächsten greifen. Je weiter aber die Entwickelungssphäre,
also je grösser die Auswahl des „Gebotenen" wird und
damit das Selbstbewusstsein (in Folge der Freiheit in der
Wahl) erwacht, desto grösser wird auch die Gefahr des
Irrens; man will zuviel von dieser oder jener Richtung und
geräth in Disharmonie zum Ganzen. Der zum Ganzen
harmonische, ursprüngliche Concentratiorspuukt ist verloren;
die Concentration liegt jetzt anderswo, da wo sie nicht
liegen soll. Hier haben wir die „leidende Menschheit".
Erst das Erkennen, dass man sich dem Verfall (dem Chaos)
nahe befindet, und das Zurückwollen aus der Disharmonie
führt zur Selbsterkenntniss, und — „naiv-bewusst" —
begiebt sich der Mensch auf den jetzt beschwerlichen Weg
zur Harmonie (mit Gott) zurück, sich seines eigenen
Willens begebend, oder besser, dasjenige wollend, was Gott
will, — eine harmonische Fortentwickelung.
Ich kann mich jetzt nicht in dieser Auffassung vom
„Dasein" über das ganze weite Gebiet des „Lebens" verbreiten
; mein heutiger Zweck ist, den Weg zu zeigen,
welcher uns zum Verständniss unseres „Ichs" führt, und zu
diesem Behufe wende ich mich nun noch zur Betrachtung
unseres sogenannten „Doppelichs"
Wer ist mein zweites, transscendentales Ich ? Bin ich's
selbst, oder bin ich's nicht? Es ist bereits viel hierüber
geschrieben worden, ohne dass man zu einer Lösung dieser
wichtigen Frage gekommen wäre. Aber wie sollten wir
auch zu einer Lösung dieses Problems gelangen, wenn wir
gleich von vornherein einen Widerspruch in den Begriff
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