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Ullrich: Der Hypnotismus.
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Ich sage nur: — „nach manchen Seiten hin"; denn vor
der übertriebenen Anwendung dieses neuen Erklärungsprinzips
muss man sich wohl hüten; auch soll man nicht
wähnen, nun den einzig passenden Schlüssel zu allen
Geheimnissen der Natur gefunden zu haben. Eines jedoch
scheint durch die hypnotischen Experimente bewiesen zu
sein, nämlich das Dasein einer seelischen Kraft im
Menschen und ihr bisher ungeahnter Einfluss auf den
Körper.
Um das Verständniss für das Unbekannte leichter zu
erschliessen, wollen wir von ganz bekannten Dingen und
Thatsachen ausgehen. Wir würden z. B. die herrlichen
Gemälde eines Raphael als unbegreifliche Wunderwerke
anstaunen, wenn wir nicht wüssten, dass die Anlage zum
Zeichnen und Malen schon in jedem Kinde mehr oder
weniger schlummert; daher erkennen wir auch jedes
künstlerische Schaffen als einen ganz natürlichen Vorgang.
Aehnlich verhält es sich mit der in uns verborgenen
psychischen Kraft. Wir kennen sie längst, nur haben
wir sie noch nicht ausgebildet. Im normalen Leben treffen
wir auf Geschehnisse in Menge, die von der Macht der
Seele über den Leib zeugen. Namentlich sind es die
Gemüthsbewegungen, die auf den Körper einwirken.
Verlegenheit und Scham treiben die flammende Rothe ins
Antlitz, die Furcht macht erzittern, die Angst bleich. Ja,
oft schon haben wir vernommen, dass jähe Freude, z. B.
über den Gewinn des grossen Looses, oder auch heftiger
Schrecken, z. B. über den unerwarteten Verlust eines
theueren Angehörigen, sogar den Tod einer Person
verursacht hat. Auch das Denken bringt körperliche
Veränderungen hervor. Manchem wird es schon begegnet
sein, dass ihm bei der lebhaften Vorstellung seiner Lieblingsspeise
flüssiger Speichel im Munde zusammengeronnen ist,
oder, wie die volksthümliche Redensart lautet: — „dass
Einem das Wasser im Munde zusammengelaufen ist."
Ferner vermag auch ein starker Wille seine Herrschaft
über den Körper auszuüben. Es giebt Leute, die zu einer
ganz bestimmten Stunde in der Nacht aufwachen können,
sobald sie sich das beim Niederlegen fest vorgenommen
haben. Schliesslich entsinnen wir uns wohl, schon gebort
oder gelesen zu haben, dass eine unverhoffte grosse Freude
die Heilung oder doch wenigstens Besserung eines Kranken
bewirkte, dass der Wille, einer drohenden Gefahr zu entrinnen
, z. B. beim plötzlichen Ausbruch einer Feuersbrunst,
einem Gelähmten den Gebrauch seiner Glieder wiedergab.
Eine wunderbare psychische Kraft in uns kann demnach
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