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110 Psychische Studien. XX. Jahrg. 2. Heft. (Februar 1893)
Menschheit nur trostlos machen.* Von jeder Art äusserlichen
Kultus sieht er ab. Die Sache hat dabei auch eine sociale
Seite. Einer der ersten Grundsätze ist: — 'Niemand darf
mehr besitzen, als ihm seinem Arbeitsertrage nach zukommt!
— Das wäre der socialistische Zukunftsstaat. Das klingt
alles mehr vernünftig als mystisch, ist aber im Grunde auch
nur der Ausfluss jenes Tabtcns und Suchens nach einer
neuen Gemüthsbefriedigung, das die modernen Franzosen
machtvoll ergriffen hat, das in den 'Symbolisten' und in den
mystischen Darstellungen des Theätre d'Application, in den
Dicht ungen' eines Charles Morice, Rodenbach, Buet, Paul
Verlaine zum Ausdruck kommt, das Zola veranlasst, *le Reve'
zu schreiben und seine provencjalisehe Rede zu halten. Und
heute geht Zola nach Lourdes, um ein Buch über den
Mysticismus der Heiligenverehrung und den Glauben an
wunderbare Heilungen durch die heilige Jungfrau zu
schreiben. Im nächsten Jahre geht er vielleicht, wie alle
Welt, nach Bayreuth [wo es übrigens dereinst auch schon
vor und zu Napoleon''s I. Zeiten gespukt hat! — Ref.], und
geht als gläubiger, als Anbeter des neuen Propheten, der
Richard Wagner heisst, und der dort in Bayreuth die neue
Religion des Geistes gestiftet und das neue welterlösende
Mirakel der Kunst aufgerichtet hat: ja, nun hat das nach
seelischer Wiedergeburt ringende junge Frankreich seinen
Kultus gefunden, dort, in Bayreuth winkt Montsalvatsch,
leuchtet der heilige Graal. Das ist endlich die Form, nach
welcher die erwachenden katholischen Regungen sehnsüchtig
gesucht haben. Schon im Februar d. J. tauchte in Paris
eine litterarische Revue auf, die sich betitelte: — „Le
Saint-Graal." — Sie hatte nichts mit einer wagnerischen
Revue zu thun. Sie, wie die symbolistischen und
buddhistischen und die taoistischen Bestrebungen, — die
Tadisten sind in allem gleich den Geisseibrüdern des
Mittelalters, sie peitschen und brennen sich den Rücken,
um zur Erkenutniss der Wahrheit zu ^langen; an die
hundert dieser Schwärmer giebt's schon m Paris, — sind
wie alle diese Regungen eines Erwachens des Katholicismus
im mittelalterlichen Sini»e(?) nichts anders als der Ausdruck
einer leidenschaftlichen Reaktion gegen deir 'profanen
Skepticismus und Sensualismus der Zeit.1 — Aber nun
Wagner's Tannhäusermusik in Paris gehört ward, haben die
Empfindungen dieser 'jungen unruhigen Geister, Künstler
und Christen in dogmatisch und philosophisch katholischem
Sinne' den Ausdruck gefunden, den sie vergebens gesucht
in Magie und Pentagramm, in Zerknirschung und Salatessen
und Singen im höheren Chor, 'die Stirn gebadet im Licht-
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