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118 Psychische Studien. XX. Jahrg. 3. Heft (März 1893.)
Angeklagten, die Thatsaclie, dass sie als Mutter von vier
Kindern und Gattin eines erwerbsunfähigen Mannes als
Näherin eine nur sehr massige Erwerbsquelle hatte, und
endlich die Leichtgläubigkeit ihrer Klientel.
Bei der heutigen Verhandlung vertritt Assessor
Dr. Gäseler*) die Anklagebehörde. Der kleine Zuhörerraum
des Sitzungssaales bietet nur Platz für eine geringe Anzahl
von Personen. [Der grösste Theil des Publikums besieht
selbstverständlich aus Spiritisten.] Als Zeugen sind von
bekannten Spiritisten u. A. Dr. med. Egbert Müller, Dr. Spatzier
und Schriftsteller Blankenburg geladen.
Landgerichtsdirector Schenck betont im Voraus, dass
es sich bei dieser Verhandlung nicht darum handle, das
Zutreffende oder Unzutreffende des Spiritismus klarzulegen,
sondern nur festzustellen, ob die Angeklagte als Medium
Betrugshandlungen begangen hat.**)
Auf die Frage des Präsidenten erklärt die [in Trauerkleidung
erschienene] Angeklagte: — Ich habe bis zum
vierzehnten Lebensjahre eine Bürgerschule besucht und dort
auch etwas Französisch gelernt. Ich war zum ersten Male
mit einem Holzbildhauer Ileinze verheirathet, bin aber von
demselben geschieden worden. Mein zweiter Mann, der
Kaufmann Töpfer, ist neuerdings geschieden.***) ich gab
früher Unterricht in der Schneiderei, die Sache ist aber
durch den Spiritismus aufgehoben worden. — Präsident: —
Wie sind Sie zu Ihrer neuen Beschäftigung gekommen? —
Angeklagte: — Mich hat 'mal ein Bergmann auf die in mir
*) Am Schlüsse und in den „Leipziger Neuesten Nachr." heisst
er wohl richtiger Dr. Kesseler oder Kessler. — Der Sekr. d. Red.
**) Unseres freilich bisher ganz unbeachtet gebliebenen Erachtens
musste hier die Verteidigung die Angeklagte, welche durchweg bei
ihrer Behauptung stehen blieb, dass sie ein echtes Medium sei
und nicht betrogen habe, kräftigst unterstützen, und die Aussage
der Zeugen Cohn und der Uebrigen mussten energisch angefochten
und widerlegt werden, was in der Weise und Art unserer Ver-
theidigung der Angeklagten im Juni- bis August-Hefte 1892 dei*
„Psych. Stud." immerhin ein gangbarer und erfolgreicher Weg hätte
werden können. Wir kennen die juristischen Motive des Herrn Verteidigers
Wronker nicht, der als Nichtkenner oder Ungläubiger des
Spiritismus derartigen Thatsachen ebenso skeptisch gegenübersteht,
wie bisher die meisten Gelehrten, aber dennoch aus dem Falle des
ebenfalls stark angezweifelten und doch gerechtfertigten Medium?» Eusapia
Paladino in Mailand im December-Hette 1892 und Januar-Hefte 1893
unserer „Psych. Stud.", die wir ihm durch Vermittelung zukommen
Hessen, die ueberzeugung hätte schöpfen können, dass Frau Topf er doch
wohl auch ein Unrecht geschehen sein könne, da gerade ihre echteMediam-
schaft so vielseitig und übereinstimmend bezeugt ist! — D. Ö. d. Red.
***) Er ist vielmehr gestorben. Vergi. „Psych. Stud." December-
Heft 1892 S. 588. — Der Sekr. d. Red.
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