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Wittig: Moltke'ö spiritistische Anschauungen. 209
„Dass die Vernunft und mit ihr Alles, was wir an
Kenntniss und Wissen mühsam erworben, uns in die
Ewigkeit begleiten wird, dürfen wir hoffen, vielleicht auch
die Erinnerung an unser irdisches Dasein. Ob wir das zu
wünschen haben, ist eine andere Präge. — Wie, wenn einst
unser ganzes Leben, unser Denken und Handeln vor uns
ausgebreitet da läge und wir nun selbst unsere eigenen
Richter würden, unbestechlich, erbarmungslos?
„Aber vor Allem das Gemüth rauss der Seele verbleiben,
wenn sie unsterblich ist Die Freundschaft zwar beruht
auf Gegenseitigkeit; bei ihr spricht noch die Vernunft mit,
aber die Liebe kann bestehen ohne Gegenliebe. Sie ist die
reinste, die götdiehe Bramme unseres Wesens.
„Nun sagt uns die Schrift, wir sollen vor Allem Gott
lieben, ein unsichtbares, uns völlig unfassbares Wesen,
welches uns Freude und Glück, aber auch Entbehrung und
Schmerz bereitet. Wie können wir es anders, als indem
wir seine Gebote befolgen und unsere Mitmenschen lieben,
die wir sehen und verstehen.
„Wenn, wie der Apostel Paulus schreibt, einst der
Glaube in die Erkenntniss, die Hoffnung in die Erfüllung
aufgeht und nur die Liebe besteht, so dürfen wir hoffen,
auch der Liebe eines milden Richters zu begegnen. —
C r e i s a u, im October 1890." —
Moltke über sein Ende. — Aus der Rede des
Feldpropstes D. Richter, die derselbe nach der Einsegnung
der Leiche Moltke*b im Trauerhause gehalten, heben wir
noch ein Gitat hervor. Der Feldpropst erwähnte einen
Brief, den Moltke vor elf Jahren, nach seinem achtzigsten
Geburtstage, an einen Hofprediger geschrieben. Derselbe
sagt: — „Ich stehe nahe am Ende meiner Lebenswege.
Aber welcher ganz andere Maaszstab als hier wird in einer
künftigen Welt an unser irdisches Wirken gelegt werden.
Nicht der Glanz des Erfolges, sondern die Lauterkeit des
Strebens und das treue Beharren in der Pflicht, auch da,
wo das Ergebniss kaum in die äussere Erscheinung trat,
wird den Werth eines Menschenlebens entscheiden. Welche
merkwürdige Umrangirung von Hoch und Niedrig wird bei
der grossen Musterung vor sich gehen. Wissen wir doch
selbst nicht, was wir uns, was wir Anderen, oder einem
höheren Willen zuzuschreiben haben. Es wird gut sein, in
äusserer Beziehung nicht zu viel in Rechnung zu stellen.''
— Wir fragen: — ist das etwa kein Spiritualismus und
Spiritismus; haben diese je etwas Anderes gelehrt?
Psychische Stadien. April 1893.
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