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226 Psychische Studien. XX. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1893.)
Der Mann und die erwachsene Tochter sind Tags über
nicht zu Hause. Der Erstere ist in einer Druckerei, die
Letztere in einer Schneiderwerkstatt beschäftigt, während
Frau S. zu Hause einem kleinen Victualiengeschäft und
ihrer Wirthschaft vorsteht.
Das stille, arbeitsame Leben der drei einfachen Leutchen,
besonders das der Frau &, sollte bald auf recht unangenehme
Art und Weise gestört werden.
Am 3. Januar er. sitzt Frau S. allein in ihrer Stube
am Fenster, als sie plötzlich im Zimmer ein Klingen und
Geklimper wie mit Stricknadeln, sowie ein unbeschreibbares
Knistern in den Zimmerwänden und Dielen hört, und es
ist ihr, als ob etwas Unsichtbares um sie herumhusche;
ausserdem bemächtigt sich ihrer ein unheimliches Gefühl,
welches sie den ganzen Tag nicht los wird, auch empfindet
sie einen kalten Luftstrom im Zimmer. Immer ist es ihr,
als wenn mehrere unsichtbare Wesen sich um sie zu
schaffen machen und in der Stube hemmhuschen. Nachts
kann Frau S. nicht schlafen, alle Augenblicke wird sie
von dem unsichtbaren Etwas gew* ckt. Diese Beunruhigungen
dauerten bis zum 10. Januar mit geringen Abweichungen fort.
An diesem Tage sitzt Frau &\ Strümpfe strickend am
Ofen; da längt es mit der Ofenthür an zu klinkern; als sie
erstaunt hinsieht, erhält sie einen furchtbaren Schlag von
einer unsichtbaren Hnnd, wie sie deutlich empfindet, aut
den Mund, so dass dieser dick aufschwillt. Weinend und
sehr erschrocken, springt sie auf und erzählt das ihr
Widerfahrene Abends ihrem Maune, der es ihr aber
immer noch als Täuschung ausreden will, obgleich die
Verletzung im Gesicht seiner Fi *u eine sehr deutliche
Sprache redet. Auch ihm waren eigenthümliehe Geräusche
im Zimmer und in den Schränken aufgefallen, doch
verschwieg er absichtlich seine Wahrnehmungen, um die
Angst semer bhau nicht noch mehr zu steigern.
Den nächstfolgenden Tag wird Frau S. fortwährend
an den Haaren von unsichtbarer Hand gezogen, auch wird
sie wie mit Nadeln an allen Körperstellen gestochen.
Mittags fängt e» in dem auf dem Tische liegenden
Photographie-Album an zu knistern, als ob die Blätter
desselben zerrten würden; dann hingt der Tisch an, sich
an den Schmalbeiten hoch zu heben und mindestens zehn
Minuten lang hin- und her zu tanzen. Nachts kann sie
wieder nicht schlafen und wird fortwährend aus dein
Schlafe geschreckt, Die Tochter sollte nun am anderen
Tage zu Hause bleiben, doch war dieselbe vor Grauen
nicht dazu zu bewegen, so dass Frau S. wieder allein zu
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