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Wittig: Parallelfälle zu dem nächtlichen Schreckgespenst etc. 233
Zeitung" Nr. 20—23, 94. Jahrgang, (Leipzig, Otto Friedrich
Dürr), die wohl keine blosse Romanertindung sein kann.
Ein nach Genua zu seiner Erholung und Bildung
gereister junger Mann, der sein grosses Staatsexamen
gemacht hatte, trifft dort seinen besten Jugendfreund,
einen Maler und Bildhauer Kart Freihold, in höchst
melancholischer Stimmung, weil dieser mit ihm eine
wunderbar schöne Marmorstatue auf dem dortigen Friedhofe
fCampo Santo) entdeckt hatte, deren verkörperte Gestalt
ihm zuletzt eines Abends an der Küste, wie vorher als
mitternächtliche Beterin in einer städtischen Kapelle an einem
Marmorsarkophage erschienen und jedesmal auf räthselhafte
Weise wieder entschwunden war. „Vorher, als sie mit
leisem Schritt an ihm vorüber ging, sah er in ein Antlitz
von seltener Schönheit." Sie war ihm dann um eine
Strassenecke entschwunden, so dass er in der Nähe derselben
sie gelegentlich einmal wieder zu sehen hoffen durfte.
„Aber alle seine Bemühungen waren vergebens, 'und
schon fürchtete ich*, erzählt Kurt selbst seinem Freunde
weiter, 'die Dame, eine Fremde vielleicht, habe Genua für
immer verlassen; da war mir endlich gestern Abend,
nachdem wir uns getrennt, das Schicksal günstiger. —
Wieder fand ich mich bald nach der elften Stunde in der
Kapelle ein, des Misserfolges ziemlich sicher, da sah ich
zu meinem Entzücken die schöne Beterin an derselben
Stelle. Ich folgte ihr, als sie sich endlich entfernte. Ob
sie mich beim Durchschreiten der Kirche gesehen, ich weiss
es nicht. Wohl wandte sie das Haupt nach der Richtung,
in der ich mich befand, ein dunkel brennendes Augenpaar
streifte über mich hin, ich fühlte den Blick dieser Augen
schmerzhaft wie einen Stich; aber da in dem bleichen
Gesicht sich kein Zug veränderte, so hatte sie mich wohl
kaum bemerkt, denn ich stand im tiefen Schatten eines
Pfeilers. — Nun glitt sie aus der Kirche, ich folgte ihr
dicht auf den Fersen, sah ihre leichte Gestalt beschwingten
Schrittes einige alte Strassen durcheilen, und befand mich
plötzlich an der Porta Romana. Ohne zu zögern, durchschritt
sie das Thor — hinaus ins Freie. Mein Erstaunen
wuchs, als ich die Dame so ohne alle Begleitung und Schutz
sich zu dieser Stunde vor die Stadt begeben sah. Nur
spärlich ist dort, wie Du weisst, der Weg zu beiden Seiten
mit dürftigen Häusern besetzt, in denen das Proletariat
haust. Gewiss bewohnte sie eine der Villen in den Bergen,
hatte vielleicht ihre Begleitung verfehlt, und nun war es
ebenso der Wunsch, der mich beseelte, als Schutz in der
Nähe der Dame zu sein, die die Tollkühnheit besass, sich
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