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234 Psychische Studien. XX. Jahrg. 5. Heft (Mai 1893.)
zu nächtlicher Stunde in so verrufene, einsame Gegenden
zu hegeben, als das Verlangen, Näheres über ihren Verbleib
zu erfahren. — Flüchtig wie ein Schatten glitt sie vor mir
her, schneller und schneller, zuweilen meinte ich, diese
zarte dunkle Gestalt, deren Gehen fast einem Schweben
glich, sei aus Luft gebildet. Da machte sie plötzlich Halt.
— Ich hatte meine Aufmerksamkeit so völlig auf die
Dame concentrirt, dass ich kaum noch beachtete, wo ich
mich befand. Nun stand sie vor einer glatten weissen
Mauer. In diesem Augenblick trat der Mond voll hinter
verdunkelten Wolkenschleiern hervor, so dass man bei
seinem gespenstischen Licht jeden Gegenstand genau
unterscheiden konnte. Da drehte die Dame sich plötzlich
um, sie erhob wie abwehrend den Arm gegen mich, an
dessen Handgelenk ich eine schwere goldene Spange funkeln
sah, und ich schaute, — ja spotte nur, — ich schaute
in ein starres Leichen gesicht mit weitgeöffneten
blicklosenAugen! — Entsetzt von diesem Anblick war
ich einen Schritt zurückgetreten, es überschauerte mich mit
Eiseskälte. Da verschwand vor meinen Augen die Gestalt
der Fremden, als sei sie in Luft zerflossen, — in Wirklichkeit
war sie wohl durch eine kleine Pforte, die sich in der
Mauer befinden muss, ihrem vermeintlichen Verfolger
entschlüpft.*) — War es eine Täuschung meiner Sinne,
dass ich von der anderen Seite derselben ein dämonisches
Lachen, das leise wie ein Windhauch mein Ohr traf, zu
vernehmen glaubte? Da hörte ich die Uhren der fernen
Stadt die erste Stunde des jungen Tages schlagen, und nun
erst fasste ich meine Umgebung mehr ins Auge und sah,
— dass ich mich vor dem Campo Santo befand.* —
,/Wie leicht doch die dummen Nerven uns einen Streich
spielen können', sagte ich jetzt, da Kurt schwieg, mich zu
einem Scherz zwingend, ohne doch eines Unbehagens, das
*) Man vergleiche hierzu das „Psych. Stud." April-Heft 1892
8. 155 ff. mitgetheilte ähnliche Erlebniss eines Forstbeamten auf dem
Boizen8chlosse, — sowie des Unterzeichneten ebenso räthselhaftes
Erblicken eines in Wirklichkeit gar nicht vorhandenen Wandbildes
des heiligen Einsiedlers Dippohl in „Psych. Stud." Jahrg. 1890 S. 90 ff.,
S. 136 ff. —- Desgleichen das neueste Erlebniss der dänischen Kronprinzessin
im Stockholmer Königsschloss, in dem sie Nachts einer
männlichen Gestalt durch drei Gemächer nachfolgte, worauf diese
plötzlich durch eine Wand versehwand! (S. „Psych. Stud." April-Heft
1893 S. 178 ff.) — Eine gute Abbildung des hier in Rede stehendcu
Campo Santo von Genua findet man zu dem Artikel von Oskar Justinus
„Italienische Friedhöfe" in „Vom Fels zum Meer", Spernannt Illustr.
Zeitschr. tür das deutsche Haus, (Stuttgart, Union, Deutsche Verlagsgeseilschaft
) Halbheft 7, 1892/93, S. 291. — Der Sekr. d. Red.
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