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Wittig: Parallelfälie zu dem nächtlichen Schreckgespenst etc. 239
wird man nicht im Leben öfter durch die Begegnung mit
schönen Menschen an irgend ein Kunstwerk erinnert? —
Das Alles durchzog blitzartig meinen Sinn, ich ward
meiner Bewegung Meister und überreichte der Dame das
verlorene Tuch. Als sie es in Empfang nahm, sah ich an
ihrem Arm eine schwere Goldspange in alterthümlicher
Fassung glänzen. 'Grazie', hörte ich ihre leise Stimme,
kein Wort weiter wurde zwischen uns gewechselt. Noch
einmal neigte sie dankend das Haupt, an mir vorüber
glitt die weisse Spitzenschleppe. Und während ich der
Entschwebenden noch halb traumbefangen nachschaute,
sah ich jetzt, wie Kurt sich ihr zugesellte; er reichte ihr
den Arm und verschwand mit ihr in den Magnolienhain
. ---Vergeblich hatte ich in den nächsten Tagen
versucht, den Freund zu treffen, aber so oft ich auch
nachfragte, war er nicht zu Hause." . . .
Wie er vergebens in den alten Palast einzudringen und
den Freund dort zu treffen sucht, um ihn seinen Zauberbanden
zu entreissen, wie derselbe am anderen Morgen zu
ihm erschöpft und mit fieberhafter Rothe auf den Wangen
von selbst kommt und ihm weitere ebenso räthselhafte
Aufschlüsse über seine Lauretta macht, welche gleich einer
Sphinx ihm alle Nächte, sowie die elfte Stunde naht,
entflieht, als ob sie dem geheimnissvolien Rufe oder
Befehle eines Anderen gehorchen müsste, und wie sie ihm
wieder entschwindet, das Alles mit der schaudervollen
Endkatastrophe habe ich kein Recht weiter zu erörtern.
Ich empfehle unseren Lesern diese wohl aus Wahrheit und
Dichtung höchst geschickt zusammengewobene Erzählung im
Zusammenhange des Originals. Nur das Eine will ich noch
erwähnen, dass der Custode des Campo Santo, ein alter
eisgrauer Mann, den nach der stets in Kurfs Nähe so
räthselhaft au der Kirchhofmauer Verschwundenen nachforschenden
Freunden nur ungenügende Auskunft zu
ertheilen vermochte. „Er lebe schon lange, seit seine
Grattin gestorben, auf dem Friedhofe ganz allein, niemals
komme ein Besuch zu ihm, Verwandte besitze, er nicht.
Wer in jener beschriebenen Grabkapelle (mit dem wunderbar
schönen, knieenden Marmorbilde einer klassischen Erauen-
schönheit in einer Nische) ruhe, könne er nicht sagen,
dieselbe müsse aus einer viel früheren Zeit stammen als
alle die anderen Gräber ; man habe sie auf halber Höhe
des Berges gefunden, und da sie wohlerhalten gewesen,
sei sie in den neuen Campo Santo mit hineingezogen
worden, als derselbe dort angelegt wurde. Weiter wisse er
nichts darüber." — Und die nächtlichen Besuche Lauretta's
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