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256 Psychische Studien. XX. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1893.)
Schrift. Die betrübte Mutter erzählt der alten Frau die
beunruhigenden Erscheinungen, wie sie sich zu Hause
zugetragen haben und noch zutragen. Die alte Frau
ertheilt hierauf den guten Rath, die verwaisten Eltern
sollten das dem verstorbenen Kinde lieb gewesene Spielzeug
heraus schaffen und im Schwibbogen mit beisetzen
lassen. Man befolgte diesen Rath, und von Stund an trat
im elterlichen Hause Ruhe ein. Statt dessen will man, der
Sage nach, die Erscheinungen noch fortgesetzt in der Gruft
bemerkt haben.
Sollte Jemand Interesse an dieser wunderbaren Geschichte
nehmen, der könnte vielleicht von alten Leuten, die
diesen Friedhof noch gern zu ihren Spaziergängen benutzen,
Näheres darüber erfahren *) —
HI. Fall.
An dieser Stelle muss ich noch eines Vorfalls erwähnen,
der nach meiner Meinung nicht ganz uninteressant ist und
den sonst wohl oft zweifelhaften Werth der Karten-
legerei betrifft. — Unter den zahlenden Mitgliedern des
im Revolutionsjahre 1848 bestehenden Auswanderungs-
Vereines, bei dem ich eine Zeit lang angestellt war, befand
sich auch eine gewesene Zigeunerin, Namens Marie, die
verheirathet in Colditz in Sachsen wohnte und einen bald
militärpflichtigen Sohn hatte; diese wollte, um ihren Sohn
dem Militärdienst zu entziehen, mit demselben nach Amerika
auswandern. Sie war von einem sächsischen Soldaten einer
Zigeunerbande geraubt und dann geheirathet worden. Aus
dieser Ehe stammte der Sohn, den die Mutter eben entführen
wollte. Eine kleine Geschichte voll lieblicher
Poesie, nur gehört sie nicht in den Rahmen dieser
Erzählung. Das Schwester Mariechen, wie ich sie in meinen
Büchern verzeichnet hatte, war bei meiner Familie sehr
beliebt und drängte mich immer, mir von ihr die Karten
„ä la Lenormand" legen zu lassen. Da ich aber einen
unerklärlichen Widerwillen gegen dergleichen hatte, so
verschob ich das Anerbieten, ohne sie zu kränken, immer
weiter hinaus. Indessen eines schönen Tages, wo sich
Schwester Mariechen des Steuerzahlens wegen wieder bei
mir eingefunden hatte, war ich so heiter gestimmt, dass
ich ihrem wiederholten Drängen, mir die Karten zu legen,
nachgab und diese Kartenprophetie aufs freundlichste
entgegennahm. Die Karten, die unter einem gewissen
Ceremoniell, vielleicht nur bei den Zigeunern gebräuchlich,
*) Siehe die Anmerkung des Sekretairs der Redaction am Schlüsse
dieses Artikels Seite 259.
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