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Kurze Notizen.
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die Zeitgenossen Shakespeare^ irgend welchen Anstand
genommen hätten, irgend eine Geistererscheinung für voll
zu nehmen! Darum braucht aber das Gefühl durchaus
nicht geschwunden zu sein, dass man es mit etwas unsicheren
Gesellen zu thun hat, wenn man sich zum ersten Male
einer Geistererscheinung gegenüber sieht. Stets tritt man
daher einem Geist mit einer Beschwörung entgegen und
wartet ab, ob er standhält Auch ist, solange der Geist
noch nicht gegenwärtig ist, der Zweifel an seiner Existenz
natürlich und berechtigt, da ja auch die Shakespeare^schm
Menschen nicht tagtäglich mit Geistern verkehren und au<*
der humanistischen Bewegung die Zweifelsucht sich langsam
meldet Vor dem leibhaftigen Gespenst aber schwindet
bei Shakespeare alle Skepsis, und so ist auch Hamlet auf
der Stelle gläubig. Er folgt dem Gebote des Geistes mit
Gefahr seines Lebens, er hört seine Darstellungen mit
tieferschauernder Ehrfurcht, und als der Geist von ihm
gewichen, da hat er die Losung für sein Leben empfangen:
— 'Ade, ade, gedenke meinp — Was aber Shakespeare
gethan hat, um das Auftreten seines Geistes in Scene zu
setzen, das hat er sicherlich nicht mit Rücksicht auf eine
etwa vorhandene Zweifelsucht gethan, — ach nein, das
that er einzig und allein um der lumpigen Poesie und
dramatischen Steigerung willen, um mit einem stimmungsvollen
Nachtbilde, das das Gemüth in die rechte Spannung
setze, zu beginnen, und um die spätere Unterredung
Hamlefs mit dem Geist dadurch mehr herauszuheben. Mit
blossem Rechengeist und fein eingefädelter Dialektik kann
man derartigen dichterischen Intentionen freilich nicht nahe
kommen. — Wie es aber gar möglich war, den Geist als
eine blosse Hallucination Hamlefs aufzufassen, wie Andere
gethan haben, das ist mir völlig unfasslich. Nicht einmal
uns, die wir nicht fiaehr an Gespenster glauben, kann der
Geist im Hamlet dadurch nahe gebracht werden, wofern
wir nicht unsere Phantasie den Inspirationen des Dichters
willig gefangen geben. Sehen wir doch, dass auch noch
andere Leute das Gespenst wahrnehmen, und wenn später
die Königin es nicht zu sehen vermag und man also an
eine subjective Hirnausgeburt Hamlefs wircklich denken
könnte, so heisst das doch im Shakespeare'sehen Sinne nichts
anderes als: — die Königin ist nicht würdig, den Geist zu
sehen, und deshalb giebt der Geist sich ihr nicht zu
erkennen, — Der Geist des alten Königs ist also im
Shakespeare'sehen Drama eine Realität, und seine Enthüllung
und Racheaufforderung bedeutet für Hamlet eine
rnste Pflicht, der er sich nicht entziehen darf. Eines
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