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We^el: Mystische Erscheinungen in Sage u. Volksaberglauben. 563
Mystische Erscheinungen in Sage und Volksaberglauben
.
Von Dr. Richard Wedel in Karlsruhe.
I.
Im Nachfolgenden soll gezeigt werden, wie gestaltet
mystische Erscheinungen in Sage und Volksaberglauben
aufzutreten pflegen. Eine auch nur halbwegs erschöpfende
Darstellung dieses Gegenstandes zu geben, ist nicht die
Absicht des Verfassers. Es gilt vielmehr nur, an einigen
Beispielen darzuthun, wie weitverbreitet im Volksbewusstsein
diese neu entdeckten Thatsachen waren und noch sind.
Die Belege wurden zum weitaus grössten Theile der
nordisch-germanischen Vorzeit entnommen, und zwar abgesehen
von einigen sehr schlagenden, gelangten besonders
solche zur Darstellung, welche dem Leser aus dem einen
oder dem anderen Grunde wohl weniger bekannt sein
dürften. Es war nur die Absicht, die Aufmerksamkeit der
Forscher auf diesen Gegenstand zu lenken; eine ausführliche
und gleichmässige Behandlung dieses dankbaren Stoffes
muss einer beruteneren Feder überlassen bleiben.
Die mystischen Erscheinungen zeigen in den Berichten
aller Zeiten und Völker trotz grosser Mannigfaltigkeit eine
unverkennbare Gesetzmässigkeit. Hierdurch wird es dem
nur einigermaassen Eingeweihten nicht eben schwer, wahre
Thatsachen von willkürlichen Gebilden der Phantasie zu
trennen. Besonders auffällig wird der Unterschied, wenn
wir das Wunderbai e in den Mythen mit jenem in den
Fabeln und Zaubergeschichten, wie ./lausend und eine
Nacht", vergleichen. Freilich hat auch bei jenen der dem
Geheimnissvollen geneigte Sinn der Völker aus eigener
Machtvollkommenheit mancherlei hinzu gethan, und bei
diesen haben die Erzähler häufig Vorgänge aus dem wirklichen
Leben verflochten. Aber was in dem einen Falle
als Regel gilt, ist in dem anderen Ausnahme, Während
sich daher das mystische Element in den Märchen und
Fabeln nur als zufälliges Beiwerk zeigen wird, dürfte es
sich bei einiger Betrachtung heraus stellen, dass es in den
Sagen und Mythen den Kern bildet, um welchen sich die
Erzeugnisse einer willkürlich schöpferischen Phantasie
ankrystallisirt haben. Und auch diese letzteren werden
häufig genug ihre Analogien in den Erscheinungen des
wirklichen Lebens haben; denn während ein Märchenerzähler
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