http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1893/0570
564 Psychische Studien. XX. Jahrg. 12. Heft. (December 1893.)
durch das Neue und Abenteuerliche seiner Stoffe zu fesseln
sucht, will jene bewusst oder unbewusst schaffende Kraft,
welcher die Volkssagen und Mythen ihre heutige Gestalt
verdanken, das Räthselhafte gerade glaubwürdig machen.
Erst die spätesten Zusätze, welche entstanden, als der
Glaube bereits zu wanken anfing, oder schon gänzlich
erloschen war, werden den Stempel des Märchenhaften an
sich tragen, weil damals jene Erzählungen nur ein Gegenstand
der Unterhaltung waren. Aber die Thatsachen
werden auch in jenen Epigonenzeiten nicht fehlen; nur
wird der eine Irrthum der Erklärung einem anderen Platz
gemacht haben: — wenn wir diesen Erscheinungen in der
Geschichte nach dem Siege des christlichen Glaubensbekenntnisses
begegnen, so pflegen wir sie in dem Schubfache
des Volksaberglaubens unterzubringen.
Freilich dürfen wir bei einer derartigen Untersuchung
nicht erwarten, in den Berichten die Phänomene mit
naturalistischer Treue geschildert zu finden, sondern, wie
etwa der Bergmann gediegenes Gold im Muttergesteine
antrifft, was erst mühsam von den werthlosen Anhängseln
befreit werden muss, so treffen auch wir unser Edelmetall
gebunden an ein werthloses Gemisch müssiger Erfindungen und
unbeabsichtigter Täuschungen. Da wird Zusammengehöriges
auseinander gerissen und Nichtzusammengehöriges gepaart,
hier wird verkleinert, dort abenteuerlich vergrössert, durch
falsche Analogien entstehen groteske Gebilde, welche dem
Reiche des Märchenhaften grosse Strecken Landes erobern,
— und immerdar werden wir eine dem Zeitgeiste angepasste
Erklärung finden. Ja, wenn man so sieht; wie sich die
Wahrheit fortwährend verkappt, wie sie proteusartig dem
Griffe des nach ihr Haschenden zu entrinnen sucht, da
möchte Einem wohl die Befürchtung aufsteigen, dass einst
späteren Geschlechtern auch unsere Bestrebungen nur als
eine neue Larve in dem grossen Mummenschanze erscheinen,
und dass auch wir nichts anderes liefern, als ein neues
Blatt zu der Geschichte des menschlichen Irrthumes. Wohl
setzen wir unser ganzes Können ein; aber thaten unsere
Vorfahren von ihrem Standpunkte nicht dasselbe? Unser
Gesichtskreis ist weiter, weil wir auf den Schultern unserer
Ahnen stehen, aber unsere Enkel werden vielleicht ebenso
auf uns herabsehen. Jedoch berechtigen derartige Grübeleien
nicht, unsere Untersuchungen einzustellen. Wenn ein
geringerer Irrthum an die Stelle eines grösseren gesetzt
wird, so ist schon etwas geschehen; wenn wir beweisen,
dass der Materialismus ein stumpfsinniger Aberglaube ist,
so haben wir, die JSlächenarbeit verlassend, — um mit
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1893/0570