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590 Psychische Studien. XX. Jahrg. 12. Heft. (December 189S.)
wer von unseren Lehrern kennt von Kant mehr als den
Namen?! Und wer möchte von siebzehnjährigen Primanern
verlangen, dass sie sich durch die 'Kritik der reinen
Vernunft, durcharbeiten, um zu würdigen, was ihnen ihre
.Lehrer vortragen?! —
,/Aber' — wird nun der Chemiker einwenden — 'wie
kann man denn den Molekülen ihr materielles Dasein abstreiten
, da man doch ganz genau ausrechnen kann, wie
schwer sie sind V — Dem würde ich er wiedern, dass es mir
viel wunderbarer erscheinen würde, wenn man das nicht
könnte. Hat man einmal einem System von Begriffen einen
neuen Begriff einverleibt, und versucht man nun, diesen
Begriff fruchtbar zu machen, so findet man ganz natürlich
für den anfangs unbestimmten Begriff eine Beihe näher
bestimmender Eigenschalten. Solcher Eigenschaften fand
die höhere Mathematik nicht wenige für die unendlich kleine
Grösse, nachdem sie erst einmal angefangen hatte, diesen
Begriff systematisch zu verwerthen. Ja sie fand deren so
viel, dass sie ein Molekül gar nicht alle in sich vereinigen
kann. Das Molekül des analytischen [es zerlegenden]
Mechanikers hat nur eine Eigenschaft, die der Schwere.
Aus unausgedehnten Punkten aber lässt sich kein ausgedehnter
Körper aufbauen. Will man also dem Molekül
materielles Dasein beilegen, so wird man ihm auch eine
bestimmte Gestalt zuschreiben müssen. Der Optiker, der
das Licht nicht auf Schwingungen der Moleküle zurückführen
kann, sondern als Träger dieser Bewegung einen
besonderen Stoff, den Aether, annimmt, umkleidet jedes
materielle Molekül mit schwingenden, immateriellen Aether-
molekülen, und da diese Schwingungen Farben erzeugen, so
hat jedes materielle Molekül auch seine bestimmte Farbe.
Der Chemiker nun, der sich nicht um die gemeinsamen
Eigenschaften aller Materie, sondern um die besonderen
Eigenschaften der verschiedenen Arten von Materie kümmert,
kann mit einem untheiibaren 'Molekül' nichts anfangen, er
muss es weiter in 'Atome' zerlegen. Das Molekül, das alle
diese Eigenschaften in sich vereinigt, unterscheidet sich also
von gewöhnlicher Materie durch nichts als durch die
willkürliche Annahme, dass seine Theile durch mechanische
Kraft nicht zu trennen seien. Das Molekül ist also nur ein
ideelles Bild der Materie. Jeder Zweig der Wissenschaft
entkleidet die Materie aller für ihn unwesentlichen Eigenschaften
und schafft sich so den Grundbegriff einer materiellen
Einheit, die nur die Eigenschaft trägt, die für den
betreffenden Zweig der Wissenschaft von Bedeutung ist.
Es giebt also in Wahrheit nicht ein Molekül, sondern so
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