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Wittig: Parallelfälle zu dem nächtlichen Schreckgespenst etc. 13
ßrod, bis ich die grossen Kinder untergebracht hatte. Ein
kleinerer Sohn und eine Tochter sind mir noch im Hause
geblieben, ein Sohn ist kaiserlicher Soldat, die anderen
sind in Stellungen. Nicht lange nach dem Begräbnisse
ging ich eines Nachmittags auf den Kirchhof zu seinem
Grabe mit meinem jüngsten, damals sechsjährigen Sohne
und zerweinte und zerjammerte mich schier. Da sagte der
kleine Sohn zu mir: — 'Mutterle, sieh doch, wie die Blumen
auf Vaters Grabe so schön blühen in der Sonne, es ist,
als ob der Vater uns anlächelte!" — Da weinte ich noch
viel mehr und wollte ihn mit meinen Fingernägeln aus der
Erde hervorgraben. Der Kummer um seinen Verlust und
das viele Weinen haben mich auch vor der Zeit alt und
runzlig gemacht. Schmerzzerrissen Hess ich mich von
meinem kleinen Sohne heimziehen und legte mich Abends
sorgenvoll zu Bett. Da, gegen 9 Uhr, als Alles ganz still
um mich war und ich noch immer weinte, ging plötzlich
die Stubenthüre auf, und mein seliger Mann trat
leibhaftig ins Zimmer herein wie im Leben,
schritt auf mein Bett zu, ergriff mich bei der Hand und
redete zu mir: — „Mutter, Du darfst nicht mehr so um
mich weinen. Siehe, ich bin immer bei Dir, und Du wirst
auch keine Noth mit den Kindern leiden." — Da sagte
ich zu ihm: — „Ach, dann bleibe doch lieber gleich bei
mir und gehe nicht wieder fort!" — Er entgegnete: —
„Bei Dir bleiben kann ich nicht so, wie ich jetzt bin in
dieser Gestalt, aber im Geiste bin ich doch immer bei
Dir/ — Ich aber hielt seine Hand fest und wollte ihn nicht
loslassen und bat immerfort, er solle doch bei mir bleiben.
Aber er zog seine Hand plötzlich aus der meinigen und
ging mit tröstenden Worten und mich liebreich anblickend
rückwärts zur Thüre wieder hinaus. Er hatte seine
gewöhnlichen Kleider und Stiefeln an, denn er trat auf und
ging wie im Leben, nur oben an seiner Brust schien es
mir, als ob er in etwas Weisses bis zum Kopfe gehüllt
wäre. Ich war gewiss nicht im Traume oder im Schlafe,
sondern ganz wach, denn ich stand sofort auf und erzählte
das Erlebte meinen Kindern, die ich wachrief, die mir aber
nicht glauben wollten und sagten: — 'Mutter, das hast Du
nur lebhait geträumt V — Aber ich weiss es ganz gewiss,
dass ich seine Hand festgehalten und ihn leibhaftig vor
mir gehabt habe. Die Stubenthüre war nicht verschlossen,
sondern nur eingeklinkt. Seit dieser Erscheinung wurde
ich etwas ruhiger über mein Wittwenloos und habe, Gott
sei Dank! bis jetzt noch keine Noth mit meinen Kindern
gelitten, wenn ich mich auch tüchtig rühren und, wenn ich
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