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146 Psychische Studien. XXI. Jahrg. 4. Heft (April 1894.)
„[Rentner und] Schlofer von Dorlisheim".*) Wer hätte nicht
schon etwas von diesem Manne gehört! Kaum vernehmen
die Leute, dass man ein Dorlisheimer ist, so treten sie
einem gleich mit der Frage entgegen: — „Was macht denn
euer berühmter „Schlofer" in Dorlisheim ?" — In den letzten
Tagen hat die Nachricht von seiner Verhaftung nicht geringes
Aufsehen erregt, und es dürfte für manchen von Interesse
sein, etwas Genaueres über den Wunderdoctor zu erfahren.
Dieser „Schlpfer", wie er in aller Leute Mund heisst,
schreibt sich eigentlich „Gottfried Jost". Er ist der Sohn
braver, rechtschaffener Eltern, die vor etwa acht Jahren
ihre goldene Hochzeit feierten. Von Hause aus ist der
„Schläfer" eigentlich Schneider. Er war dann längere Zeit
in Paris, wo er sich auch mit „medicinischen Studien"
beschäftigte. Dort wurde er schon damals in seiner Eigenschaft
als „Schläfer" viel zu Rathe gezogen und — das
steht fest — sogar von sehr reichen und vornehmen Pariser
Herrschaften befragt. Aus der Weltstadt zurückgekehrt,
betrieb er in Dorlisheim sein Schneiderhandwerk. Da er
in seinem Geburtsorte nicht als „Schläfer" gelten wollte,
übte er damals seine Kunst im Geheimen nur im Dienste
seiner Familie oder zur Unterhaltung der vertrautesten
Hausfreunde. In Gesellschaft machte er nicht selten den
„Tisch tanzen", oder er hob mit flacher Hand einen Sessel
in die Höhe, nachdem er ein paar Mal über die Lehne
gestrichen hatte.
In den ersten Jahren blieb seine Kunst strengstes
Familiengeheimniss; aber nach und nach wurde auch im
Dorfe davon geredet, und jetzt ist sein Name weit über
die heimathlichen Grenzen hinaus bekannt; ja, man kann
getrost sagen, er hat einen Weltruf, denn nicht allein aus
dem Elsass, Altdeutschland und Frankreich, sondern auch
aus den anderen europäischen Ländern, ja sogar aus Afrika
und der „neuen Welt'' eilen die Leute herzu, bei dem
„Schlofer" in Dorlisheim Hilfe und Genesung zu suchen,
manchmal 50 bis 80 Personen täglich. Die Behörde hat
dem „Wunderdoctor" immer auf die Finger gesehen. Vor
etlichen Jahren hat er wegen „Curpfuscherei" einige Monate
Gefängniszstrafe absitzen müssen. Damals besuchte der
*) Der Ort hat auch noch seinen deutschen Malteser-Commendator
und Grossprior von Dänemark Augustin von Mörsperg besessen^ welcher
im Jahre 1603 im Alter von 61* Jahren in der daselbst befindlichen
Commende von St. Johann unter Hinterlassuog eines wichtigen
Manuscripts über seine weiten See- und Landreisen verschieden ist,
Vergl. „Psych. Stud." März-Heft 1894 S. 109 ff. Note. —
Der Sekr. d. Red»
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