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244 Psychische Studien. XXI. Jahrg. 5. Hett. (Mai 1894.)
Nach herzlicher Begrüssung setzten wir uns bald auch zum
Abendtisch, und rasch verrannen einige Stunden in gemüth-
lichem Geplauder, bis wir uns gegen 10 Uhr zur ßuhe
begaben.
Ich hatte mein Nachtlager im ersten, von der Hausflur,
resp. der „Presse" (Lokale, wo der Wein gekeltert wird),
aus erreichbaren Zimmer, während die Schwester mit den
vorgenannten beiden Frauen und ihrem jüngsten Töchterchen
in entfernteren Zimmern des neuangebauten Gebäudeflügels
schliefen. Da ich niemals ohne vorhergehende Leetüre
einschlafen kann, so legte ich mich auch diesmal mit irgend
einem Buche zu Bette. Schon während des Lesens nun
hörte ich ein wiederholtes Auf- und Zusperren
und -Sehlagen der Hausthür, welche sich unmittelbar
neben meiner Zimmerthür befand, beachtete es aber
anfänglich gar nicht, da ich der Meinung war, die Schwester
habe Jemanden von den Winzerleuten zur Hilfeleistung bei
Bereitung des Abendmahles beigezogen, der jetzt mit dem
Ordnen der Küche und dem Reinigen des Geschirres
beschäftigt sein mochte, wobei ein öfteres Aus- und Eingehen
wohl erklärlich sein konnte. Als sich indessen das
Auf- und Zusperren der Hausthüre gar so oft wiederholte,
fing die Sache doch an, mir einigermaassen sonderbar vorzukommen
, umsomehr als auch keine Tritte hörbar waren,
was doch der Fall hätte sein müssen, da man, um zur
Hausthür zu gelangen, unmittelbar vor meiner Thüre
vorüber musste.
Nach Beendigung meiner Nachtlectüre löschte ich
endlich das Licht aus, um einzuschlafen; da ward aber
das Hausthor nochmals aufgesperrt, zugeschlagen und
wieder versperrt, und gleich darauf vernahm ich ein
leises Drücken an meiner Thürklinke, als ob
Jemand sich hätte einschleichen wollen. — Nun kam mir
plötzlich ein anderer Gedanke, nämlich dass es etwa auf
die Kasse meiner Schwester abgesehen sein könnte, da man
ja allgemein wusste, dass dieselbe die Weinfechsung alljährlich
„von der Presse weg", wie der technische Ausdruck lautet,
zu verkaufen pflegte, folglich — da die heurige Lese vor
wenigen Tagen erst beendet war — bei der Schwester eine
grössere Geldsumme vermuthen mochte. — Mit dem Rufe:
— „Was giebt's, wer ist's ?4< — richtete ich mich im Bette
auf und blickte scharf auf die Fenster meines Zimmers,
hinter welchen ich, da die Vorhänge derselben nicht
zugezogen waren, bei der herrschenden Mondhelle jeden ins
Zimmer Kommenden deutlich hätte sehen müssen. Doch
kein Laut ward fernerhin vernehmbar, so dass ich endlich
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