http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1894/0257
Wittig: Parallelfälle zu dem nächtlichen Schreckgespenst etc. 249
Und Du bringst den Amor, liebes Kind! j Bist vor Schrecken blass! |
Liebe, komm und lass, j Lass uns sehn, wie froh die Götter sind!' —
„Ferne bleib, o Jüngling, bleibe stehen! | Ich gehöre nicht den
Freuden an. | Schon der letzte Schritt ist, ach! geschehen | Durch
der guten Mutter kranken Wahn, | Die genesend schwur: | Jugend
und Natur | Sei dem Himmel künftig unterthan.
„Und der alten Götter bunt Gewimmel | Hat sogleich das stille
Haus geleert. | Unsichtbar wird Einer nur im Himmel, | Und ein
Heiland wird am Kreuz verehrt; | Opfer fallen hier, | Weder Lamm
noch Stier, | Aber Menschenopfer unerhört/' —
Und er fragt und wäget alle Worte, | Deren keines seinem
Geist entgeht: — | 'Ist es möglich, dass am stillen Orte | Die geliebte
Braut hier vor mir steht? | Sei die meine nur! | Unsrer Väter
Schwur | Hat vom Himmel Segen uns erfleht/ —
„Mich erhältst Du nicht, Du gute Seele! | Meiner zweiten
Schwester gönnt man Dich! | Wenn ich mich in stiller Klause
quäle, | Ach! in ihren Armen denk* an mich, | Die an Dich nur
denkt, | Die Dich liebend kränkt; | Iu die Erde bald verbirgt sie sich." —
'Nein! bei dieser Flamme sei's geschworen, | Gütig zeigt sie
Hymen uns voraus, | Bist der Freude nicht und mir verloren,
Kommst mit mir in meines Vaters Haus. | Liebchen, bleibe hier!
Fei're gleich mit mir | Unerwartet unsern Hochzeitschmauss!' —
Und schon wechseln sie der Treue Zeichen, | Golden reicht sie
ihm die Kette dar, j Und er will ihr eine Schale reichen, | Silbern,
künstlich, wie nicht eine war. | „Die ist nicht für mich; | Doch,
ich bitte Dich, | Eine Locke gieb von Deinem Haar!" —
Eben schlug die dumpfe Geisterstunde, | Und nun schien es ihr
erst wohl zu sein. | Gieiig schlürfte sie mit blassem Munde | Nun
den dunkel blutgefärbten Wein; | Doch vom Weizenbrod, | Das er
freundlich bot, | Nahm sie nicht den kleinsten Bissen ein.
Und dem Jüngling reichte sie die Schale, | Der, wie sie, nun
hastig lüstern trank. | Liebe fordert er beim stillen Mahle; | Ach,
sein armes Herz war liebekrank. | Doch sie widersteht, | Wie er
immer fleht, | Bis er weinend auf das Bette sank.
Und sie kommt und wirft sich zu ihm nieder: — „Ach, wie
ungern seh' ich Dich gequält! | Aber, ach! berührst Du meine
Glieder, | Fühlst Dn schaudernd, was ich Dir verhehlt. | Wie der
Schnee so weiss, | Aber kalt wie Eis | Ist das Liebchen, das Du
Dir erwählt." —
Heftig fasst er sie mit starken Armen, | Von der Liebe Jugendkraft
durchmaniit: — | 'Hoffe doch, bei mir noch zu erwarmen, |
Warbst Du selbst mir aus dem Grab gesandt!' — | Wecliselhauch und
PgychiHOhe Stadien. Mai 1894. 17
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1894/0257