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268 Psychische Studien. XXL Jahrg. 5. Heft. (Mai 1894.)
Fälle, in welchen der Erscheinung des Agenten andere
Fernwirkungen vorhergehen, die nur in unbestimmten
Gefühlserregungen empfunden werden. So bei jener Dame,
die, wiewohl sie gesund war, von melancholischen Gefühlen
bedrückt wurde; dann kam ihr der Gedanke an einen
entfernten Freund, und plötzlich hatte sie eine Vision: —
Es schien ihr, als befinde sie sich in einem nackten Zimmer
ohne Teppiche und Möbel, nur mit einem Bette versehen.
Es lag ein Todter darin, in welchem sie jenen Freund
erkannte. Etwa eine Woche später las sie in der Zeitung
seine Todesanzeige; er war in der Fremde in einem
Hospital gestorben, und zwar in einem Zimmer, dessen
nachträgliche Beschreibung mit jener Vision übereinstimmte.1)
— Dieses Beispiel zeigt sehr gut den Formenwechsel, den die
Fern Wirkung im Bewusstsein des Percipienten annimmt: —
das Gefühl steigert sich zum Gedanken und dieser zur
Vision.
Die Mystiker haben von jeher den Verstorbenen die
Fähigkeit zugeschrieben, dort zu erscheinen, wohin ihre
Gedanken sich richten. So z. B. Swedenborg und Fricker.9)
Auch sollte der obige, aus der Latenzdauer der Fernwirkung
entnommene Einwurf keineswegs gegen die zahllosen Fälle
gerichtet sein, die seit ältesten Zeiten und aus allen Ländern
über das Erscheinen Verstorbener berichtet werden. Im
Gegentheil lässt sich darin nur eine normal gewordene
Fähigkeit erkennen, die abnormer Weise schon bei Lebzeiten
eintreten kann: — beim Magnetiseur, bei der Hexe,
bei Sterbenden u. s. w. Normal aber kann diese Fähigkeit
nur bezüglich des Unbewussten beim Agenten wie Percipienten
sein, und wenn das Erscheinen Verstorbener relativ
doch selten vorkommt, so liegt es an der Schwierigkeit,
womit unbewusste Einwirkungen uns bewusst werden.
Häufig zeigen es Nebenumstände au, dass die Fernwirkung
nicht von einem Sterbenden ausgeht, sondern erst
nach dem Tode eintritt. Die Bildhauerin Hosmer hatte eine
junge Italienerin Rosa als Dienerin, die ihrer Gesundheit
wegen genöthigt war, zu ihrer Schwester zurückzukehren,
aber von Zeit zu Zeit den Besuch der Bildhauerin erhielt.
Einst erwachte diese aus tiefem Schlaf mit dem beängstigenden
Gefühl, dass Jemand im Zimmer sei. Auf ihren Ruf: —
„Wer ist da?" — erhielt sie keine Antwort, aber der
*) Marillier 84.
2) Swedenborg: — „Vom Himmel." c. 121. — „Von der Geisterwelt
." c. 494. — tricker \ — „Phil. Beweis, dass sich die Seele
theilen kann." —
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