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Kurze Notizen.
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alter Mann mit langen, schneeweissen Haaren und mit
gelbem Halstuch kam, der auf die Schienen zuging, wegen
dessen P. regelmässig die Maschine zum Stillstehen brachte,
um den Todesschrei nicht zu hören, der sich aber niemals
vernehmen Hess. Sein darüber verwunderter Heizer erklärte
diese wiederholten Visionen für ein blosses Blendwerk. Da
sich jedoch dasselbe durch ll|Ä Jahre wiederholte und den
Mann ganz nervös machte, so wandte er sich an obigen
Eisenbahn-Arzt in der kleinen Stadt Qu. in der Provinz
M., dass er ihm helfe, damit er seinen Posten nicht aufzugeben
brauche bei einer Frau mit vier Kindern. Der Arzt
untersuchte seine Augen und seine ganze Constitution, fand
aber an dem Manne nichts Krankhaftes, auch keinerlei
Störung seiner Gehirnfunctionen. Er kannte ihn als einen
stets nüchternen, höchst zuverlässigen Beamten. „Der Mann
war so gesund wie ich selber." Der Doctor sagte ihm, es
liege absolut kein Grund vor, seinen Dienst zu quittiren,
er könne gänzlich beruhigt sein, die Sache habe gar nichts
weiter auf sich, es sei nur eine Sinnestäuschung, so etwas
komme vor. Aber er rieth ihm, sich von dem Orte weg
versetzen zu lassen, die Eahrlinie zu wechseln. — Dieser
Rath wurde befolgt, und der Arzt wartete über ein halbes
Jahr auf einen Bericht des Mannes von seinem dortigen
Besserbefinden vergebens. Plötzlich erhielt er ein Schreiben
von dem Gefängnissdirector in S., der Gefangene berufe sich
auf ihn, dass er unschuldig sei, trotzdem er wegen eines
absichtlichen Mordes schuldig erkannt worden sei. Er sei
in fast wahnsinniger Aufregung und behaupte, der Dr. B.
kenne ihn, der wisse, dass er kein Mörder sei, dass er nichts
dafür könnet Der Arzt reiste auf der Stelle hin und sagte
zu seinen Gunsten aus. Der Heizer, der mit P. am 17. Juni
Dienst auf der Lokomotive des Frühzuges von Bl. gefahren
war, erklärte, dass er mit dem Güterzug der Strecke Gr.-Bn.
früh 6 Uhr Morgens in der Nähe des Bahnhofes Kr. an
der rechten Seite unweit der Eisenbahnlinie aus einem
kleinen Häuschen, das er seit fünfjährigen Fahrten gut
kannte, einen alten Mann kommen sah, der mit unsicherem,
hastigem Schritt die Passage über das Geleise zu gewinnen
suchte. „Es wird das immer verboten, aber es geschieht
immer von Neuem", — sagte der Heizer, und auf Befragen
des Arztes, wie der alte Mann ausgesehen habe, beschrieb
er ihn als „einen hageren Alten mit langen, dünnen, weissen
Haaren, und er hatte, ich sehe es heute noch genau, ein
gelbes Tuch um den mageren Hals geschlungen. Der P.
schien nichts zu bemerken; denn er führte den Zug ruhig
weiter. Ich schrie ihm ein 'Halt!' zu. Er sah sich verstört
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